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Schicksalspfad Roman

Schicksalspfad Roman

Titel: Schicksalspfad Roman
Autoren: Catherine Bourne
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Ho.«
    Rick seufzte. »Kann mir das niemand abnehmen? Es ist drei Uhr morgens.«
    »Niemand sonst ist hier«, sagte Grace, was stimmte. Fred Hirsch, der diensthabende Arzt, war um elf gegangen, und er hätte Rick ohnehin nicht geholfen. Fred hatte Grace irgendwann anvertraut, dass er Rick Nash für
den faulsten Arzt im Krankenhaus von Manhattan hielt, obwohl man Rick jetzt schon als Freds Nachfolger betrachtete, wenn dieser sich im nächsten Jahr zur Ruhe setzen würde. Rick hatte, seine Begabung mal außer Acht gelassen, einen Onkel im Vorstand.
    »Das ist doch albern«, sagte Rick und lachte verblüfft auf. »Sie meinen, niemand ist da, der eine so einfache Sache erledigen kann wie einen Katheter entfernen?«
    Grace glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Rick war erst neununddreißig, aber er benahm sich, als hätte er bereits eine Heilmethode für Krebs entdeckt und brauchte niemandem mehr etwas zu beweisen.
    »Sie wohnen doch nur sechs Blocks entfernt«, erinnerte Grace ihn höflich.
    »Es ist drei Uhr morgens«, brüllte Rick. »Muss ich denn für jede Kleinigkeit rüberkommen?«
    Grace’ Herz pochte. Sie hasste Konflikte, besonders mit den Ärzten. Sie wollte bloß, dass Rick seine Arbeit tat, damit Mr. Ho auf die normale Station verlegt werden konnte und ein dringend benötigtes Bett auf der Intensivstation frei wurde.
    Sie sagte: »Ich würde es ja selbst tun, Rick, verstehen Sie mich bitte richtig, aber ich glaube nicht …«
    »Würden Sie das wirklich?«, fragte Rick erfreut. »Das wäre wirklich eine große Hilfe, Grace. Sie würden mir einen Riesengefallen tun.«
    »Nein, ich wollte nur sagen, da Mr. Ho ein paar Komplikationen hatte, ist es vermutlich nicht angebracht, wenn ich es tue. Wenn nun etwas schiefgeht …«
    »Nichts geht dabei schief«, unterbrach Rick sie und legte all sein ärztliches Selbstvertrauen in diese Worte.
»Erstens sind Sie die beste Schwester auf der Station. Zweitens stecken die Katheter schon nicht mehr im Herzen. Man braucht sie bloß herauszuziehen.«
    Grace öffnete den Mund zum Sprechen, aber ihr fiel darauf nichts ein. Fünf Minuten später stand sie neben Mr. Ho und rollte die Ärmel ihrer blauen Uniform hoch.
    Die Katheter steckten tief in den langen Venen von Mr. Hos Lende. Man brauchte eine ruhige Hand, um sie herauszuziehen. Grace holte tief Luft, entschlossen, sich nicht von Ricks Komplimenten beeinflussen zu lassen. Es war schön, wenn man geschätzt wurde, aber zu einer guten Krankenschwester gehörte es nicht unbedingt, dass man die Aufgaben anderer übernahm. Sie hätte sich weigern sollen, aus dem einfachen Grund, dass es gegen alle Regeln verstieß. Natürlich wurden hundertfach und ständig größere oder kleinere Regeln gebrochen. Grace’ größter Fehler aber war, dass sie sich häufig von anderen überreden ließ.
    Mr. Ho war wach und lag still da. Er stammte aus Taiwan und verstand kaum Englisch, aber man merkte, dass er auf das, was er wusste, sehr stolz war. Er war zweiundachtzig.
    »Mr. Ho, Sie werden einen leichten Druck spüren«, sagte Grace. »Ich drücke hier auf Ihre Lende, okay?« Manche Patienten empfanden das als extrem schmerzhaft, so dass ihr Blutdruck abfiel, aber Mr. Ho war alt und hatte eine stoische, beherrschte Natur. Er schloss die Augen und nickte knapp.
    Es gab wie überall gute und schlechte Patienten. Gary war ein guter Patient gewesen, dachte Grace, auch wenn er sich ständig über das Essen beschwert hatte. Er war
nach der Krebsoperation am Magen auf die Intensivstation gekommen und hatte sofort begonnen, mit Grace zu flirten. Daran war sie gewöhnt, aber Gary war klüger und lustiger als die meisten anderen Patienten. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ließ sich Grace darauf ein, mit ihm auszugehen. Er lud sie ins Nobu ein, das er sich mit seinem Lehrergehalt kaum leisten konnte, und sie erzählten einander ihr Leben. Gary erwähnte seine Krankheit nur wenig, denn er hatte sich blendend davon erholt. Grace merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Er war für sie ein Held, ein Vorbild an Optimismus und Duldsamkeit. Im April, sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung, wurde er für geheilt erklärt und machte Grace einen Heiratsantrag. Im Mai heirateten sie im Standesamt der City Hall und zogen zusammen in Grace’ Haus auf Turtle Island. Aber im Juni begann Gary abzunehmen. Grace bestand darauf, dass er zum Arzt ging. Die Diagnose war schlimmer, als sie befürchtet hatten. Es war Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sich
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