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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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will ich wenigstens meinen Sohn bei mir haben. Leo hat recht. Wir müssen Paul zurückholen. Außerdem finden wir bei ihm den Schlüssel für den Safe. Und ich möchte verdammt noch mal wissen, was in diesem Safe ist.«
    »Mama ... Er meint nicht uns. Er meint mich. Du sollst hierbleiben, schreibt er«, protestierte ich schwach. Mit einem Mal wurde mir bewusst, was Mama eben überhaupt gesagt hatte. Die Welt der Mahre. Nun hatte sie es ausgesprochen. Die Mahre. Es gab sie. Und wenn es sie gab, gab es womöglich auch Colin ...
    »So, schreibt er das, ja?« Mama stemmte wütend die Arme in die Seite. »Ist mir schnurzegal, was der Herr schreibt und befiehlt. Ich lasse dich nicht alleine nach Hamburg fahren, niemals! Ausgeschlossen!«
    »Aber Papa wird sich etwas dabei gedacht haben und ich glaube kaum, dass Paul es toll findet, wenn wir zu zweit dort auftauchen und auf ihn einreden.« Ich spürte, wie mein zögerlicher Protest sich vervielfachte, stark wurde - unbeugsam. So schlecht war Papas Idee gar nicht. Ja, ich brauchte einen Auftrag, um nicht verrückt zu werden, um endlich etwas tun zu können. Und immerhin hatte ich diesen schauderhaften Winter genutzt, um meinen Führerschein zu machen. Aber erst musste ich wissen, ob Papa tatsächlich verschollen war und nicht doch in einem Krankenhaus lag und auf ein Lebenszeichen von uns hoffte.
    »Wir warten, bis wir Nachricht von der Polizei bekommen«, schlug ich Mama vor, die immer noch aussah, als wolle sie im nächsten Moment das komplette Büro kurz und klein schlagen und anschließend in Flammen setzen. »In Ordnung? Wenn die nichts rausfinden, fahre ich.«
    »Ellie, ich habe meinen Sohn verloren und ich will nicht noch meine Tochter verlieren ...«
    »Du verlierst mich nicht. Und ich bringe Paul zurück. Falls ich fahre. Versprochen. Er wird mehr auf mich hören als auf dich, glaubst du nicht?«
    Mama nahm die Hände von den Hüften und verschränkte sie vor der Brust. Wenn sie diese Haltung einnahm, war nicht gut Kirschen essen mit ihr, das wusste ich genau. Doch ich wusste ebenso gut, dass ich nicht mit ihr nach Hamburg fahren wollte. Ich wollte es allein tun. Auch weil ich Angst hatte, dass dieses Haus seine Wärme und Geborgenheit endgültig verlieren würde, wenn meine Mutter es verließ. Dass Tessa kam und es sich nahm, wie sie sich Colins Haus genommen hatte. Wir brauchten ein Zuhause.
    Mama würde es fertigbringen und sich in Hamburg eine Wohnung mieten, falls Paul weiterhin auf stur stellte. Und sosehr ich den Westerwald am Anfang auch abgelehnt hatte - das hier war Colins und mein Revier. Sie durfte mich hier nicht wieder herausreißen. Nicht solange ich Hoffnung hatte, dass Colin und ich eines Tages in den Wald zurückkehren durften.
    »Mama - da ist noch etwas ...« Ich hielt ihn die ganze Zeit schon in der Hand. Einen dünnen, zusammengefalteten Briefbogen, der sich ebenfalls in dem Kuvert befunden hatte. Es stand nur ein Wort drauf. »Mia.« Und er war das beste Ablenkungsmanöver, das ich jetzt parat hatte. »Der ist für dich. Nicht für mich.«
    Ich reichte ihn ihr, floh aus dem Büro und hastete die Stufen zum Dachgeschoss hinauf. Noch bevor ich die Tür schließen konnte, strömten die Tränen über meine Wangen.
    »Ach, Papa«, schluchzte ich, während Mister X aufgeregt schnurrend um meine Beine strich. »Warum alleine für Mama? Hättest du mir nicht auch einen Brief schreiben können? Ein paar Zeilen nur für mich?«
    Weinend verkroch ich mich unter die Bettdecke. Mister X rollte sich wärmend auf meinen Füßen zusammen.
    Hatte Papa mir den Auftrag gegeben, weil er mich dafür büßen lassen wollte, dass ich mich ihm widersetzt und mit meiner Liebe zu Colin Tessa angelockt hatte? War das der erste Teil meiner Sühne?
    Oder hatte ich ihn bekommen, weil er nur mir und niemandem sonst zutraute, Paul zu überzeugen?
    Und was befand sich in dem Safe?
    Wie immer hatte ich Angst, dass Colin mir im Schlaf begegnen würde. Doch ich weinte bereits. Was machte es schon für einen Unterschied, weinend einzuschlafen, weinend von ihm zu träumen oder weinend aufzuwachen?
    Mein Schlaf gehörte meinen Tränen und meine Tränen gehörten ihm. Wo immer er auch war.

Überlebenspakete
    Eine Woche später stand Papas Wagen wieder bei uns im Hof. Ohne Papa. Der Volvo war auf dem Flughafen in Rom gefunden worden, mustergültig in der Tiefgarage abgestellt und mit bezahltem Parkticket für die ersten drei Tage. Für den Rest mussten wir nun aufkommen, ebenso wie
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