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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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...«
    »Sei still, bitte!«, fiel ich Mama ins Wort, lief ans Fenster und starrte hinaus in die tiefschwarze Februarnacht.
    »Ellie, wir müssen doch ...«
    »Nein!« Kurz presste ich mir die Hände auf die Ohren, bevor ich begriff, wie albern und kindisch ich wirken musste. »Ich will davon nichts hören«, setzte ich etwas sanfter hinzu, vermied es aber, Mama dabei anzusehen. Ich konnte ihren ratlosen, fragenden Blick spüren und ich würde ihm nicht standhalten können.
    Ich hatte Angst vor dem, was sie sagen könnte. »Es ist das erste Mal, dass er so lange verschwunden ist, seitdem ...« - seitdem was? Würde ich die Version hören, die ich kannte oder zu kennen glaubte? Oder würde ich erfahren, dass ich mir alles nur eingebildet hatte?
    Was ich zu wissen glaubte, erschien mir inzwischen so absurd, dass ich in manchen meiner schlaflosen Nächte wieder einmal an meinem Verstand zweifelte. Ich hatte mich in einen Nachtmahr verliebt. Colin. Colin Jeremiah Blackburn. Ein glückliches Händchen bei der Partnerwahl hatte ich ja nie gehabt. Aber ein Nachtmahr -stopp.
    Ich ließ meine Stirn an die eiskalte Fensterscheibe sinken und versuchte zu rekapitulieren, was ich im Sommer erfahren und erlebt hatte. Okay, da war Colin. Colin, der sich nicht verlieben und nicht glücklich sein durfte, weil dann Tessa kam - jener Mahr, der ihn erschaffen hatte. Und wegen niemand anderem als mir kam sie tatsächlich. Er kämpfte mit ihr, konnte nicht gewinnen, ich brachte ihn in Papas Klinik, weil er dort sicher war. Sicher, aber krank vor Hunger. Und dann haute er einfach ab.
    Ach ja, mein Vater war ebenfalls ein halber Mahr - das durfte nicht unerwähnt bleiben. Und weil er aus dem Schlechten etwas Gutes machen wollte, hatte er sich vorgenommen, so ganz nebenbei die Welt zu retten.
    Ich schüttelte unmerklich den Kopf. Wenn es eines gab, was ich von diesem ganzen Hokuspokus glaubte, dann die Tatsache, dass ich Colin geliebt hatte. Der Rest war mit den Wochen und Monaten immer unwirklicher geworden. Bis zu dem Tag, an dem ich daran zu zweifeln begann, all das erlebt zu haben.
    Denn es gab keine echten Beweise. Ja, ich hatte eine Narbe an meinem Bein, die Frankensteins Monster alle Ehre gemacht hätte. Doch im Krankenbericht stand: von einem Keiler angefallen. Treibjagd. Und so war es ja auch gewesen - sah man von der unbedeutenden Tatsache ab, dass direkt nebendran zwei Mahre auf Leben und Tod miteinander gekämpft hatten und der männliche Mahr dem weiblichen circa drei- bis fünfmal das Genick gebrochen hatte. Noch immer schreckte mich das trockene Knirschen aus dem Schlaf, mit dem Tessas zerborstene Knochen wieder zusammenwuchsen, nur unterbrochen von einem zufriedenen Schnalzgeräusch, wenn die Wirbel in die richtige Position sprangen. Aber meine Narbe stammte von einem wütenden Keiler.
    Auch Mister X war nur ein Indiz, kein Beweis. Colin hatte ihn nicht persönlich bei mir abgeliefert. Der Kater war mir zugelaufen, bevor er schließlich beschloss zu bleiben. Seit Colins Verschwinden hatte er nur noch wenig Mystisches an sich. Zweimal täglich setzte er ein bestialisch stinkendes Würstchen ins Katzenklo und versuchte anschließend, wild scharrend mit seiner Streu Schloss Neuschwanstein nachzubauen. Erfolglos. Er knusperte wie jeder pupsnormale Hauskater sein Trockenfutter, ließ sich von Frauchen hinter den Zauselohren kraulen und baute sich Höhlen unter sämtlichen Teppichen und Bettdecken dieses viel zu großen Hauses. Nein, Mister X zählte nicht, obwohl mir seine schwarzpelzige Anwesenheit immer wieder Trost spendete.
    Vielleicht wäre Tillmann eine Art Beweis gewesen. Immerhin hatten wir dieses Abenteuer gemeinsam überstanden. Er hatte Tessa gesehen, war sogar beinahe von ihr angefallen worden. Er hatte mich in den Wald gefahren, zum Kampf, auch wenn er den Kampf selbst nicht miterlebt hatte. Das war allein mir vorbehalten gewesen - eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte. Nur ich wusste, welch grausame Kraft in Tessa schlummerte. Außer Colin. Colin wusste es auch - aber der trieb sich auf den Weltmeeren herum.
    Ja, Tillmann hätte mir helfen können, Traum von Wirklichkeit zu unterscheiden. Doch er zog es vor, so zu tun, als pflegten wir nur eine flüchtige Bekanntschaft. Noch schlimmer: Seit einigen Wochen ging er nicht mehr auf unsere Schule. Vor Weihnachten hatte ich ihn das letzte Mal gesehen. Wir waren uns in der Pause begegnet, ganz in der Nähe der Müllcontainer - jenes Ortes, an dem ich ihm im
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