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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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alles andere mochte ich mir nicht ausmalen -, brach im Nachbarort Hepatitis A aus. Keiner wusste, wer den Erreger eingeschleppt hatte. Man tippte auf Touristen. Touristen? Niemals. Ich hatte sofort Tessa in Verdacht. Colin hatte mir die Windpocken geschickt. Hepatitis war für Tessa wahrscheinlich ein Kinderspiel.
    Doch die Epidemie ebbte ab, bevor Panik ausbrechen konnte. Das übernahm die Schweinegrippe. Ende Oktober erwischte es mich und die Virusinfektion machte binnen weniger Tage den Weg frei für allerlei bakterielle Folgeerscheinungen. Vier Wochen lang lag ich mit hohem Fieber, Bronchitis, vereitertem Hals und Mittelohrentzündung im Bett und hasste mich selbst. Ich hasste mich dafür, krank zu sein, nichts mehr essen zu können, ich hasste meine Augen, die so tief und tot in ihren Höhlen lagen, ich hasste meinen mageren Körper. Das erste Antibiotikum versagte komplett. Das zweite schlug nur zögerlich an. Auf ein drittes verzichtete Papa. Er hatte Angst, dass ich Resistenzen bilden würde.
    Fast täglich hatte Papa mir mit dem Krankenhaus gedroht und ich hatte beharrlich gebettelt und argumentiert, bis er mich schließlich zu Hause an den Tropf hängte. Mein rechter Arm sah immer noch aus wie der eines Junkies.
    Kurz vor Weihnachten kannten wir im Dorf niemanden mehr, der gesund war. Unsere Nachbarin starb an einer Lungenentzündung und die alte Frau zwei Straßen weiter erlag ihrem Krebsleiden. Die Zeitung wimmelte nur so von Todesanzeigen. Allein Papa blieb gesund wie eh und je.
    Dann fiel Schnee - beinahe täglich, bis Tauwetter ins Land zog und sich die Straßen in widerlich braungraue Matschpisten verwandelten, die Nacht für Nacht gefroren und tagsüber wieder aufweichten, um erneut von Schnee bedeckt zu werden. Mir blieb kaum etwas anderes übrig, als mich in meine Schulbücher zu vertiefen und all meine Energie in das Abitur zu stecken. Denn ansonsten gab es nicht mehr viel in meinem Leben. Ich traf mich ab und zu mit Maike und Benni zu abendlichen Unternehmungen, aber es kam immer irgendwann der Punkt, an dem ich mich mitten im fröhlichen Trubel an Colin erinnerte, so deutlich und lebhaft, dass ich all die Bilder mit roher Gewalt löschen musste, um nicht zu Boden zu sinken und meinen Tränen freien Lauf zu lassen.
    Der Frühling war noch lange nicht in Sicht. Doch auch er würde nichts an der Sinnlosigkeit meines Daseins ändern. Mitte März standen meine mündlichen Prüfungen an - und dann? Was sollte ich tun? Ich hatte keine Ziele. Ich wusste nicht, was ich studieren sollte. Mir fehlte jeglicher Ehrgeiz, irgendetwas in meinem Leben zu erreichen, obwohl mir mein Abidurchschnitt wahrscheinlich keinerlei Grenzen setzen würde. Ich hatte mir nicht einmal die Informationsbroschüren der Universitäten zukommen lassen. Mama duldete meine gewollte Perspektivlosigkeit stillschweigend. Uns beiden war klar, dass ich zum Sommersemester kein Studium beginnen würde, obgleich im Grunde nichts dagegensprach.
    Sobald Mama und ich von der Polizeiwache nach Kaulenfeld zurückgekehrt und ausgestiegen waren, warf ich meinen Mantel über den Garderobenhaken und nahm mit schweren Schritten die Treppe nach oben in mein Dachzimmer, um meine Tiere zu füttern. Tiere war eigentlich eine zu nette Umschreibung für diese Absurditäten der Natur. Nachdem Tillmann mir die Spinne, die ihn und mich in den Kampf begleitet hatte, einfach wieder vor die Tür gestellt hatte - auch etwas, das ich ihm übel nahm -, hatte ich ihr widerstrebend Asyl gewährt. Immerhin konnte sie mir möglicherweise Aufschluss über Tessas Verbleib geben, wie sie es schon im
    Sommer getan hatte. Doch sie verhielt sich so normal und unspektakulär, dass ich meine Angst vor ihr verlor. Ich taufte sie Berta und war dankbar, ihr nur noch ein Heimchen pro Woche zum Verzehr reichen zu müssen, denn mein Bad sollte keine Mördergrube werden. Ich vollendete mein Referat, erntete eine Eins und motivierte Herrn Schütz damit leider Gottes dazu, mir in regelmäßigen Abständen weitere unschöne Kreaturen zu überlassen.
    Seit einigen Wochen war ich also nicht nur stolze Besitzerin der Spinne Berta, sondern erfreute mich überdies der Gesellschaft eines Albinomolchs, der Tag und Nacht in Dunkelheit unter einem schlammigen Stein vor sich hin vegetierte (ich nannte ihn schlicht Heinz), einer graugrünen Stabheuschrecke (Henriette) und zweier Grundeln, Hanni und Nanni. Kreativität war nie meine Stärke gewesen, auch nicht beim Namenverteilen.
    »Ellie, ich
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