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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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weiß nicht, wie du neben diesen Monstern leben und schlafen kannst«, sagte Mama, die mir nachgekommen war und angeekelt beobachtete, wie ich Henriettes Vitrine öffnete und ihr eine zappelnde Grille reichte. Nun war mein Badezimmer doch eine Mördergrube geworden. Die Fensterbank diente ausschließlich der Aufbewahrung artgerechten Lebendfutters, und wenn ich duschte, begannen die Heimchen fröhlich zu zirpen, nicht ahnend, was sie in den kommenden Tagen erwartete. Nämlich ein schneller, konzentriert vollendeter Tod. Henriette und Berta arbeiteten bewundernswert effektiv.
    Ich schüttete etwas Futter in die Aquarien von Heinz, Hanni und Nanni und wandte mich Mama zu. Sie war noch immer wütend wegen des Fettkloßes und wirkte dadurch umso entschlossener.
    »Ich glaube, der Zeitpunkt ist da.«
    »Welcher Zeitpunkt?«, fragte ich verständnislos. Mit einem lautlosen Schnappen verschlang Heinz sein Leckerli. Gott, war der hässlich.
    »Komm mit. Ich zeige es dir.«
    Mama ging voraus und lotste mich in Papas Büro. Ich musste schlucken, als ich über die Türschwelle trat. Meine Kehle wurde eng. Verdammt, Papa, warum bist du nicht hier, dachte ich verzweifelt und klammerte mich am Regal fest. Ich hatte sein Arbeitszimmer seit seinem Verschwinden nicht mehr betreten.
    Sein Schreibtisch war gähnend leer - bis auf ein Kuvert, das exakt in der Mitte der Arbeitsfläche lag.
    »Das hat er jedes Mal dort liegen lassen, wenn er zu einer seiner Konferenzen aufbrach«, wisperte Mama. »Und ich bin mir sicher, dass es für uns ist. Dass wir es öffnen sollen.«
    »Es ist bestimmt für dich«, sagte ich hastig und wollte mich zurückziehen, doch Mama hielt mich am Handgelenk fest.
    »Nein, Ellie, bleib hier. Es ist für uns.«
    Ich löste mich aus ihrem Griff, lief aber nicht weg. Eine Weile standen wir stumm da und beäugten das Kuvert.
    »Wer macht es auf?«, fragte Mama schließlich bang.
    Seufzend trat ich hinter den Schreibtisch, nahm es an mich und wollte Papas silbernen Brieföffner durch den Schlitz ziehen. Doch das konnte ich mir sparen, denn der Umschlag war offen. Der Brief rutschte ein Stück heraus, als ich das Kuvert wendete, und berührte kitzelnd meine Fingerkuppen. Ich ließ den Umschlag auf den Schreibtisch fallen, als hätte er mir die Haut aufgeschlitzt. Mama stöhnte auf.
    »Soll ich ...?«
    »Nein!«, rief ich schnell und nahm ihn wieder an mich, um den Briefbogen aus seinem Versteck zu befreien und zu entfalten. Das leise Ticken der altmodischen Tischuhr hallte in meinen Ohren, bis ich mich endlich überwinden konnte, nach unten zu sehen. Ja, das war Papas Schrift.
    »Lies vor«, bat Mama mich und trat einen Schritt auf mich zu.
    Abwehrend wich ich ans Fenster zurück. Ich wollte diesen Brief nicht aus meinen Händen geben, bevor ich ihn gelesen hatte, und trotzdem fürchtete ich mich vor dem, was er mir sagen würde. Ich kniff ein paarmal meine Lider zusammen, bis die Buchstaben klarer wurden.
    »Nun ist es so weit«, begann ich mit zitternder Stimme. »Ich bin nicht zurückgekehrt und Ihr habt das Kuvert geöffnet. Gut so. Ich habe zwei Aufträge - einen für jede von Euch.«
    Mama schnaubte leise. Ich wusste nicht, ob aus Protest oder Kummer. Ich blinzelte meine Tränen weg, um weiterlesen zu können.
    »Da ich genau weiß, dass Ihr keine Befehle akzeptiert, weil eine sturer ist als die andere, habe ich meine Befehle Aufträge genannt. Und ich wäre sehr glücklich, wenn Ihr sie befolgtet.
    Ellie: Hol Paul zurück. In seinen Mauern findest Du den Schlüssel für den Safe. Mia: Halte die Stellung. Behalte das Haus. Zieh nicht fort.
    Ich liebe Euch. Und ich bin bei Euch. Vergesst das niemals.«
    Mama hatte sich auf das grüne Ledersofa sinken lassen, während ich Papas Zeilen vorgelesen hatte, und auch ich konnte kaum mehr stehen.
    »Was bildet dieser Verrückte sich eigentlich ein?«, knurrte Mama nach einer Pause, in der sie mehrmals angestrengt geschluckt und geschnieft hatte. »Hierbleiben. Stellung halten. Befinden wir uns im Krieg, oder was?«
    »Ich kann das nicht«, sagte ich tonlos und wie zu mir selbst. »Ich kann jetzt nicht weg.« Gleichzeitig wusste ich, dass ich mir im Grunde meines Herzens nichts sehnlicher wünschte als einen Auftrag, auch wenn er sich so unmöglich und unerfüllbar anhörte wie dieser.
    Wieder schwiegen wir. Dann holte Mama tief Luft, richtete sich auf und wandte sich mir zu.
    »Doch. Wir sollten gehen. Wenn mein Mann es vorzieht, in die Welt der Mahre zu verschwinden,
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