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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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für die Überführungskosten. Papas letzter Flug hatte ihn nach Neapel gebracht. Dort verloren sich die Spuren. Kein Krankenhaus hatte ihn aufgenommen, weder auf dem Festland noch auf Sizilien. Der Wagen selbst war unversehrt. Ein Unfall wurde ausgeschlossen.
    Die Polizei tippte noch immer auf ein amouröses Doppelleben, doch Mama und ich wussten, dass es in diesem Doppelleben wenig amourös zuging. Nun standen wir im Wintergarten und spitzelten argwöhnisch durch den dichten Efeu vor den Fenstern auf den eckigen dunkelblauen Volvo hinunter, als könne er im nächsten Moment ätzende Säure verspritzen.
    Die Mitteilung der Polizei - »Verbleib unbekannt« - war nicht die einzige Nachricht, die uns in dieser Woche erreicht hatte. Ich hatte eine freundlich formulierte Zusage für eine Putzstelle in einer Hamburger Klinik erhalten, was ich angesichts meines Abidurchschnitts, der aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo zwischen 1,0 und 1,3 liegen würde, nicht besonders komisch fand. »Wir freuen uns, Sie am 19. Februar um 20 Uhr zu Ihrer ersten Schicht begrüßen zu dürfen.« Es musste sich um eine Verwechslung handeln und ich war schon versucht gewesen, den Brief zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen, doch ich tat es nicht. Auch mein Versuch anzurufen endete damit, dass ich auflegte, bevor jemand abnehmen und ich das Missverständnis aufklären konnte. Denn die Klinik befand sich in Hamburg und in Hamburg lebte Paul. Ich konnte also persönlich in der Klinik erscheinen, dem zuständigen Menschen Bescheid sagen, dass ich nicht diejenige war, die hier den Boden schrubben wollte, und damit möglicherweise irgendeiner armen Seele einen Job verschaffen, den sie aufgrund dieser Verwechslung nicht bekommen konnte.
    Somit hatte ich doppelt Grund, nach Hamburg zu fahren. Das war es, was ich seit Tagen tat: Gründe suchen, um nach Hamburg zu fahren. Dieser hier war lächerlich, denn ich konnte auch einfach eine E-Mail an die Klinik schreiben, anstatt anzurufen. Doch je mehr Gründe ich fand, persönlich in Hamburg zu erscheinen, desto besser und sicherer fühlte ich mich bei meinem Vorhaben. Dieser Brief erschien mir wie ein Wink des Schicksals - ja, als hätte er eine besondere Bedeutung. Sie erschloss sich zwar aus dem Schreiben ganz und gar nicht, aber jedes Mal, wenn ich es durchlas, lösten die Zeilen ein leises Summen in meinem Bauch aus.
    Außerdem brauchte ich diese bunte Palette an Gründen nicht nur für mich. Ich brauchte sie auch für Mama. Denn sie wehrte sich immer noch gegen die Idee, mich alleine gen Norden reisen zu lassen. Der Winter ließ nicht locker. Wieder hatte es Schnee gegeben und die Straßen waren permanent vereist. Umso stärker brannte in mir der Wunsch, diesem stillen, bedrückenden Haus den Rücken zu kehren und meinen Auftrag zu erfüllen. Nicht zuletzt trieb mich meine Neugier zu Paul - und die Sehnsucht nach meinem großen Bruder, den ich all die Jahre so schmerzlich vermisst hatte.
    Jetzt war das passende Auto da. Sich in Mamas Ente zu setzen glich einem unausgesprochenen Selbstmordkommando. Ich fürchtete mich bereits darin, wenn Mama am Steuer saß. Ich selbst am Steuer dieses Knattertorpedos? Unvorstellbar. Papas Auto erschien mir gemütlicher und weitaus verkehrssicherer. Trotzdem wagte ich mich nicht in seine Nähe.
    »Ich werde ihn durchsuchen«, beschloss Mama nach einigen Schweigeminuten. »Vielleicht finde ich etwas.«
    »Hm«, murmelte ich zustimmend und war froh, dass sie die Angelegenheit übernehmen wollte. Dann war wenigstens ein vertrauter Mensch nach Papa auf den abgewetzten Sitzen herumgekrabbelt. Im Moment war es für mich immer noch Papas Auto und möglicherweise roch es nach ihm ... Vielleicht steckte eine seiner heiß geliebten Pink-Floyd-CDs im Player ... Vielleicht lagen seine Pfefferminzdrops, die er so gerne lutschte, im Handschuhfach. Es war schon bedrückend genug, sich das Auto von außen anzusehen.
    Mama band sich ihre wilden Locken im Nacken zusammen, als wolle sie Ordnung auf und in ihrem Kopf schaffen, und reckte das Kinn.
    »Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten, Ellie. Entweder ich hoffe darauf, dass er lebt und zurückkommt, und werde meine gesamte Zeit mit Warten verbringen; Warten auf ein Ereignis, das vielleicht nie eintreffen wird. Oder ich gehe davon aus, dass ... dass ihm etwas zugestoßen ist, habe die Chance zu trauern und freue mich umso mehr, wenn er eines Tages wieder in der Tür steht.«
    »Und wofür entscheidest du dich?« Ich gab mir keine
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