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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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nur für ein oder zwei Stunden - etwas, was in den vergangenen sieben Jahren kein einziges Mal geglückt war, weil Paul mit eselsähnlicher Sturheit so tat, als gäbe es uns nicht mehr.
    Also packte ich ein, was in den Koffer passte, warf ein paar CDs obendrauf und genoss die zornige Anstrengung, die ich benötigte, um die Verschlussschnallen zuschnappen zu lassen. Keuchend schleppte ich den Trolley zur Tür und sah mich um.
    »Was mach ich denn mit euch?«, fragte ich ratlos und betrachtete meine lieben Tierchen. Henriette hatte die Fangarme wie zum Gebet gefaltet und sah dabei gottloser aus als Satan persönlich. Berta kauerte reglos unter einer Wurzel, satt und träge von dem Heimchen, das sie heute Morgen verspeist hatte. Heinz war wie immer vor dem Tageslicht geflohen und versteckte sich vor mir und der Welt unter seinem Stein. Nur Hanni und Nanni suhlten sich entspannt im Sand.
    Papas Wagen war theoretisch groß genug, um sie samt ihren Behausungen unterzubringen, und ich stellte mit Erstaunen fest, dass es mir schwerfallen würde, mich von ihnen zu trennen. Außerdem traute ich Mama schlichtweg nicht zu, dass sie es fertigbrachte, ihnen ihr Lebendfutter zu geben. Lieber setzte sie die Tiere im Garten aus. Und das würde keines von ihnen bei dieser Kälte überleben.
    Gut, ich würde sie also mitnehmen. Paul hatte schließlich ein Faible für hässliche Tiere.
    »Und du, Hase?« Ich ließ mich neben Mister X auf das Sofa plumpsen und fuhr ihm mit beiden Händen über das knisternde Fell. Für eine Sekunde sah ich nicht meine, sondern Colins Hände, die ihn stets so nachlässig und zärtlich zugleich gekrault hatten, wie nur er es vermochte ... Mister X hatte sich seitdem unzählige Male in fast neurotischer Ausführlichkeit geputzt und doch: Colin hatte ihn berührt. Ich ließ meine Handflächen auf seinem Bauch ruhen. Das kehlige Schnurren des Katers vibrierte sanft unter ihnen.
    Es tröstete. Und Mama hatte beschlossen zu trauern. Ich wollte sie immer noch für alles Mögliche anklagen, zuallererst für ihre vernünftige Hoffnungslosigkeit, obwohl sie mir gleichzeitig so leidtat, dass es mir die Kehle zuschnürte. Doch sie würde Trost nötig haben. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht wusste, ob ich es überleben würde, wenn Mister X seinen tierischen Bedürfnissen nachging und seine Stinkwurst der Einfachheit halber während der Fahrt in den Kofferraum setzte. Bis nach Hamburg waren es ein paar Stunden.
    »Du passt auf meine blöde Mutter auf, okay?«
    Mister X fuhr seine Krallen aus und begann, ekstatisch tretelnd meinen Sofabezug zu zerfetzen.
    Als wir zu Abend aßen, hatte Mama sich wieder beruhigt. Sie hatte nichts Verdächtiges gefunden in Papas Auto, es jedoch geputzt, den Erste-Hilfe-Kasten überprüft, mir die Bedienungsanleitung ins Handschuhfach gelegt und einen Kasten Wasser plus eine Kuscheldecke und zwei Packungen Kekse in den Kofferraum gestellt. Sie ging also davon aus, dass ich spätestens auf halber Strecke im Straßengraben landen und nimmermehr herausfinden würde. Zugegeben, meine Fahrkünste waren nicht berauschend. Aber ich wollte hier weg und ich wollte dabei unabhängig bleiben. Mamas Versuche, mich zum Zugfahren zu bewegen, waren vergebens gewesen.
    Nach dem Essen zog ich mir meinen Mantel über, wickelte den Schal fest um meinen Hals und lief durch das dunkle, stille Dorf.
    Wie immer bei diesen abendlichen Runden begegnete ich keinem anderen Menschen. Ab und zu kreuzte eine Katze meinen Weg und die Schafe auf der Weide neben der alten Eiche blökten vertraulich, als sie mich witterten. Bisher hatte ich die Kuppe des Feldwegs gemieden. Doch heute ging ich ihr mit pochendem Herzen entgegen.
    Zwei der knorrigen Apfelbäume hatten dem letzten Sturm nicht standhalten können. Wie verdrehte Gerippe drückten sie sich in den feuchten Boden. Sie verströmten einen modrigen Geruch, nicht jene verheißungsvolle und zugleich verderbliche Süße wie während des Abschieds von Colin und mir, von dem ich nicht wusste, ob er wahr oder nur ein Traum gewesen war. Hatte Colin ihn mich im Schlaf erleben lassen oder war ich wirklich hier gewesen? In meinem dünnen Nachthemd und barfuß, ohne zu frieren, ohne meine Verletzung zu spüren?
    Und spielte es überhaupt eine Rolle, ob ich es geträumt hatte oder nicht?
    Nein, für meine Gefühle spielte es keine Rolle. Für meinen Auftrag jedoch schon. Ich konnte Paul gegenüber nur überzeugend sein, wenn ich selbst überzeugt war. An Papas Verstand
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