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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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Deshalb fiel es mir schwer, seinen Worten zu folgen. Ich glotzte ihn an wie ein seltenes Insekt und musste mich gleichzeitig immer wieder abwenden, weil mir dieses Insekt sehr unappetitlich erschien. Trotzdem drang zu mir durch, was er uns mit seinen Worten bedeuten wollte. Und es ärgerte mich.
    »Ja«, antwortete Mama mit mühsamer Beherrschung. »Ja, das meine ich. Doch er ist nie so lange weggeblieben wie jetzt.«
    Der Polizist gab einen schleimigen Kehllaut von sich und kritzelte ein paar Notizen auf den winzigen Block, den er vorhin aus seiner Hosentasche gezogen hatte, anstatt die Tastatur seines Laptops zu benutzen (vermutlich konnte er ihn nicht einmal bedienen). So sahen also moderne Ermittlungsmethoden im Westerwald aus. Gekrakel auf DIN A6. Als er mit seinen Kritzeleien fertig war - leider konnte ich nichts entziffern -, schnaufte er tief durch und legte seine fleischige Pranke auf Mamas verkrampfte Finger.
    »Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Frau Sturm, aber ...«
    »Das tun Sie bereits«, entgegnete Mama knapp und zog ihre Hand weg.
    Der Polizist grinste. »Jedenfalls - haben Sie schon mal darüber nachgedacht, ob Ihr Mann ein Doppelleben führt?«
    »Ha!«, entfuhr es mir und Mama warf mir einen strengen Blick zu. Doppelleben. Hundert Punkte! Nur leider würden wir ihm dieses Doppelleben nicht en détail erläutern können.
    »Mein Mann hat keine Affäre, falls Sie darauf anspielen wollen.«
    »Liebe Frau Sturm.« Der Polizist griff nach der vollsten der drei Kaffeetassen - uns hatte er keinen Kaffee angeboten, was vielleicht aber auch besser war - und nahm einen tiefen Schluck. Sein Hals wabbelte. »Ich weiß, dass man das nicht wahrhaben möchte. Aber was glauben Sie, wie oft wir so etwas erleben? Achtundneunzig Prozent der vermissten Ehemänner geht es prächtig. Sie liegen irgendwo am Strand, mit einem jungen Mädchen im Arm, und genießen ihren neuen Start ins ... «
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu!« Mama stand auf und hieb die Hände auf den Tisch. Ein paar Papiere segelten zu Boden. »Mein Mann ist seit dem 31. Dezember verschwunden und wir haben kein Lebenszeichen mehr erhalten. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie gründlich recherchieren, ob ein Leopold Sturm oder ein Leopold Fürchtegott in einem italienischen Krankenhaus liegt und sein Auto gefunden wurde. Ob er eine junge Frau im Arm hat oder nicht, ist mir wurscht. Haben Sie das verstanden?«
    »Gewiss, Frau Sturm«, erwiderte der Polizist, doch wieder hatte sich das dümmliche Grinsen auf sein Gesicht geschlichen. Er stopfte den Block in seine Hosentasche, tippte sich an die Stirn und watschelte an uns vorbei aus dem Raum. Er ließ uns einfach sitzen! Mama und ich starrten uns einen Augenblick ratlos an, dann erhoben wir uns ebenfalls und liefen nach draußen. Die letzten Schritte rannte ich. Erst als ich mir sicher war, dem Dunstkreis des Fettwanstes vollkommen entwichen zu sein, und wir im Auto saßen, wagte ich, tief einzuatmen. Noch immer hing mir der Schweißgeruch in der Nase. Angeekelt drückte ich meinen Schal gegen meinen Mund und schluckte, während Mama schweigend ihre Ente startete und das Röhren des Motors jegliches Gespräch unmöglich machte. Mein Schal roch gut. Ein winziger Hauch Pfefferminzaroma - wie fast immer, da mein japanisches Heilpflanzenöl nach wie vor zu meinen wichtigsten Accessoires gehörte, dicht gefolgt von meinem Labello -, Parfum und Zuhause.
    Doch unser Zuhause war auch kein Ort mehr, an dem ich mich allzu gerne aufhielt. Im Sommer hatte der Westerwald sich mir (und Colin) in seiner ganzen wilden Schönheit präsentiert - bevor Tessa gekommen war und alles zunichtegemacht hatte. Doch jetzt war wahrscheinlich selbst eine nordsibirische Tundraenklave ein lieblicherer Ort als dieser hier. Unser Garten bot ein Bild absoluter Trostlosigkeit. Der Rasen lag braun und versumpft unter einer harschigen Schicht Altschnee und die Erde in den Beeten hatte sich in gefrorenen Schlamm verwandelt. Der Februar war schon in Köln der tristeste Monat überhaupt gewesen. Doch der Winter im Westerwald überbot alles, was ich bislang an miesen Wintern erlebt hatte. Die meiste Zeit lag das Dorf so still und verschneit vor uns, dass es mir vorkam, als seien wir die einzigen lebenden Wesen weit und breit, und ich war fast erleichtert, wenn ich einen qualmenden Schornstein oder Licht in einem Fenster entdeckte.
    Wenige Tage nachdem Colin geflohen und Tessa verschwunden war - ich ging davon aus, dass sie verschwunden war,
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