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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond
Autoren: Bettina Belitz
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sie schlief, während wir uns fragen mussten, ob Papa noch lebte. Ich würgte meinen Ärger mühsam hinunter. Mama hatte mein ganzes Leben lang nicht richtig geschlafen, weil sie unterschwellig fürchtete, dass Papa ihre Träume rauben könnte. Sie hatte das nie ausgesprochen, aber ich wusste es. Und es war nur natürlich, dass ihr Körper jetzt nachholte, was ihm achtzehn Jahre Nacht für Nacht verwehrt worden war.
    »Ja, die Polizei. Vielleicht hatte er einen Unfall, bei dem all seine Papiere verloren gegangen sind, liegt hilflos in irgendeinem italienischen Krankenhaus und wartet nur darauf, dass sich jemand nach ihm erkundigt.«
    Ich stockte und das Blut schoss mir heiß ins Gesicht. Krankenhaus? Unfall? Das klang viel zu normal. Erschreckend normal. Dann hatte ich also tatsächlich alles nur geträumt?
    »Oder es könnte sein«, Mama räusperte sich und auch ich bekam plötzlich das Gefühl, nicht mehr sprechen, geschweige denn atmen zu können, »dass sie ihn aus Rache verschleppt haben.«
    »Sie«, erwiderte ich heiser.
    Mama nickte. »Doch wir müssen alles andere abklären, bevor wir selbst etwas unternehmen. Und ich bitte dich, dass du mich dabei unterstützt. Wir sind nur noch zu zweit, Ellie. Lass mich nicht alleine mit der Polizei reden.«
    Mama war nach wie vor gefasst, aber zum ersten Mal hörte ich blanke Angst in ihrer Stimme. Ich trat vom Fenster weg und setzte mich in gebührendem Abstand von ihr ans Kopfende meines Bettes. Ich wollte nicht, dass sie auf die Idee kam, mich in den Arm zu nehmen. Jede Berührung wäre zu viel gewesen. Meine Haut kribbelte vor Anspannung und mir war, als würden bis zum Zerreißen gespannte Stricke an meinem Herz zerren.
    »Elisabeth«, sagte Mama sanft. »Ich habe dich in Ruhe dein Abitur machen lassen. Ich wollte dich nicht belasten. Du warst krank genug vor Weihnachten und ich bin stolz, dass du es trotzdem geschafft hast, für die schriftlichen Prüfungen zu lernen. Aber wir müssen handeln. Verstehst du das?«
    Ich nickte abermals, unfähig, ihr zu antworten. Nun war es also so weit. Wir rechneten ganz offiziell damit, dass Papa etwas zugestoßen war. Und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis irgendjemand behauptete, dass es meine Schuld gewesen war. Bis Mama das behauptete ... Ich schaute sie flüchtig an. Ich konnte keine stillen Vorwürfe in ihrem Blick entdecken. Doch in mir brodelten sie unentwegt.
    Mit einem hatte sie definitiv recht: Wir waren nur noch zu zweit. Mein Bruder Paul hatte schon lange einen Schlussstrich gezogen und beschlossen, dass diese Nachtmahrgeschichte seines Vaters Humbug und das Symptom einer beginnenden Geisteskrankheit war. Er glaubte ihm nicht. Papa selbst war fort.
    Mama und ich waren übrig geblieben. Mama kannte Papas Narben am Nacken und sie hatte seine Veränderung deutlicher wahrgenommen als jeder andere. Sie hatte zugesehen, wie aus einem Menschen ein Halbblut wurde.
    Aber ich, ich hatte im Arm eines Cambion geschlafen und mit meinen Lippen seine kühle Haut berührt. Ich hatte dem pulsierenden Rauschen in seinem Körper gelauscht, mich in seinen Erinnerungen verloren und mir von ihm meine Tränen von den Wangen küssen - nein, essen lassen.
    Ich war ihm in den Kampf gefolgt und hatte zugesehen, wie er versuchte, einen Mahr zu besiegen, der so erschreckend viel stärker und bösartiger war, als ich es jemals für möglich gehalten hatte. Und dieser Mahr war seine eigene Mutter.
    Nur ich wusste, was Mamas Entscheidung wirklich bedeutete.

Ermittlungsstopp
    »Sie wollen mir also sagen, dass Ihr Mann in der Vergangenheit immer wieder wochenlang weg war? Regelmäßig? Und sich auch damals nicht gemeldet hat?«
    Der Polizist verlagerte sein Gewicht auf die rechte Seite seines ausladenden Hinterns und das abgewetzte Polster seines Schreibtischsessels knarzte bedrohlich. Es wunderte mich, dass der Stuhl unter seiner Last noch nicht zusammengebrochen war. Alles in diesem schäbigen Zimmer der Polizeiwache wirkte zu klein für ihn -der altersschwache Tisch mit den drei halb ausgetrunkenen Kaffeetassen, der schmale Laptop vor seiner Nase, den er durchweg ignorierte, das winzige, beschlagene Fenster über seinem feisten Nacken und sogar die stahlgrauen Aktenschränke zu unserer Rechten. Was jedoch zu ihm passte, war der Mief nach kaltem Schweiß, Laserdruckersmog und vollen Aschenbechern, der sich wie zäher Nebel auf meine Atemwege legte.
    Ich hatte nie zuvor einen solch fetten Menschen gesehen - jedenfalls nicht in natura.
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