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Splitterndes Glas - Kriminalroman

Splitterndes Glas - Kriminalroman

Titel: Splitterndes Glas - Kriminalroman
Autoren: dtv
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|7| 1
    Will Grayson war seit kurz nach fünf wach, und das Licht drang durch die Vorhänge wie verdorbene Milch. Vor einer Stunde oder mehr hatte Jake im Traum aufgeschrien, und obwohl sich Lorraine neben ihm umgedreht hatte, war es Will gewesen, der die Decke zurückgeschoben hatte und barfuß ins Nebenzimmer gelaufen war. Das Schlafanzugoberteil des Vierjährigen war schweißgetränkt und seine Haut fühlte sich glitschig an, sein saurer Atem schlug Will ins Gesicht, als er ihn im Arm hielt. Ein Traum von Wölfen. Bestimmt hat er einen Zeichentrickfilm gesehen, dachte Will, mit Wölfen, die grau und glatt zwischen hohen silbernen Bäumen umherschleichen.
    »Alles in Ordnung«, hatte Will gemurmelt. »Hab keine Angst. Es war nur ein Traum.«
    Einen Augenblick lang schien der Junge Will ins Gesicht gesehen und die Worte aufgenommen zu haben, dann hatte Will seine feuchte Stirn geküsst und ihn wieder hingelegt.
    »Es ist noch früh. Schlaf weiter.«
    Er war neben dem Bett stehen geblieben, bis er hörte, wie der Atem des Jungen tiefer wurde.
    An Lorraines warmen Rücken gekuschelt, war er beinahe sofort wieder eingeschlafen, nur um aufgeweckt zu werden, als das Baby zu schreien anfing und Lorraine es halb schlafend aus dem Bettchen hob und ins Ehebett nahm, wobei sie mit den Fingern schon das Nachthemd an der Brust aufknöpfte.
    »Ich gehe nach unten«, sagte Will. »Und mache Tee.«
    |8| Fünf Uhr neun.
    Als er die Vorhänge zurückzog, sah er keinen Wolf, aber den verschwommenen Umriss eines Fuchses. Mit erhobenem Kopf und in die Höhe ragendem Schwanz lief er anmutig am Rand des offenen Feldes hinter dem Garten entlang.
     
    Als Will geduscht, sich rasiert, eine frische Kanne Tee und etwas Toast gemacht hatte, kam auch Lorraine in einem Sweatshirt und Jeans und mit locker nach hinten gebundenen Haaren nach unten.
    »Sie ist wieder eingeschlafen.«
    »Und Jake?«
    »Schläft noch.«
    Will schenkte den Tee aus.
    »Ich habe einen Fuchs gesehen«, sagte er.
    »Denselben wie schon mal?«
    »Ich glaube, ja. Ist aber schwer zu sagen.«
    Lorraine nickte geistesabwesend. »Ich habe mit Penny Travis gesprochen. Im Dorf. Sie ist Tagesmutter, weißt du noch? Ich hab dir schon von ihr erzählt.«
    Will sah sie an, legte sein Messer zur Seite.
    »Sie sagt, sie hat vielleicht im Lauf des Jahres einen freien Platz. Für Susie. Sobald Jake mit der Schule anfängt.«
    »Das haben wir doch alles schon besprochen«, sagte Will.
    »Ich weiß. Aber ich glaube immer noch   …«
    »Und ich dachte, wir wären uns einig.«
    »Du warst dir einig.«
    Will seufzte. »Ich denke, du solltest noch etwas länger zu Hause bleiben, das ist alles.«
    »Wie viel länger?«
    »Länger als bei Jake jedenfalls.«
    |9| »Mit Jake ist alles in Ordnung. Der Kindergarten hat ihm gut getan, das hast du selbst gesagt.«
    »Darum geht es doch gar nicht.«
    »Ach, worum denn dann?«
    »Ich halte es einfach nicht für gut, wenn Susie woanders betreut wird, nicht so früh. Es scheint mir nicht richtig.«
    »Gut. Dann bleibst du zu Hause.«
    »Wie soll ich das denn anstellen?«
    »Lass dich beurlauben.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Dann such dir eine andere Arbeit.«
    »Jetzt bist du aber dumm.«
    »Ach, wirklich?«
    »Ja.«
    »Na gut. Dann bin ich eben dumm.«
    Wütend verließ Lorraine die Küche, knallte die Tür hinter sich zu und stieg mit schweren Schritten die Treppe hoch. Will schüttete den Rest seines Tees in den Ausguss. Minuten später saß er in seinem Wagen. Das Radio spielte in voller Lautstärke. Als Lorraine mit Jake schwanger gewesen war, hatten sie beschlossen, aufs Land zu ziehen – ein größeres Haus, ein größerer Garten, eine hübschere Umgebung, um Kinder großzuziehen. Für Will bedeutete das einen langen Weg zur Arbeit, vierzig Minuten, wenn der Verkehr mitspielte, oft mehr. Am Anfang war es eine Belastung gewesen, aber es lohnte sich.
     
    Helen Walkers blauer VW stand vor ihm auf dem Parkplatz, aber sie saß nicht an ihrem Schreibtisch. Sie ist vor der Tür, dachte Will, eine rauchen. Er selbst hatte das Rauchen vor zwei Jahren aufgegeben; selbst Unmengen von Pfefferminzbonbons konnten den Zigarettengeruch in Helens Atem nicht vertreiben.
    |10| Sie hatten fast drei Jahre im Morddezernat zusammengearbeitet, Helen und er, und den größten Teil dieser Zeit hatten sie in Histon ein paar Meilen nördlich von Cambridge verbracht. Das Revier dort war relativ neu – ein zweistöckiges Backsteingebäude, dessen Parkplatz den
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