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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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1. Kapitel
Gesang auf den neuen Frühling
    Es war ein Tag, wie es ihn noch nie gegeben hatte, solange das Gedächtnis des Volkes auch zurückreichte. Manchmal verstrich ein halbes Jahr, ein ganzes im Kokon, in dem Koshmars kleiner Stamm vor siebenhundert Jahrhunderten seinerzeit Unterschlupf und Schutz vor dem Langen Winter gesucht hatte, und es ereignete sich nicht die kleinste Kleinigkeit, die buchenswert, der Eintragung in die Chronik würdig gewesen wäre. An diesem Morgen jedoch fanden drei außergewöhnliche Dinge statt, und zwar innerhalb des Verlaufs nur einer Stunde; und nach dieser einen Stunde konnte das Leben für Koshmar und ihr Volk nie wieder so sein wie früher.
    Als erstes kam die Entdeckung, daß sich von unten her eine gewichtige Phalanx aus den Tiefen, den Eisestiefen der Welt, näherte. Eisfresser im Anmarsch auf den Kokon.
    Es war Thaggoran, der Chronist, der sie als erster ausmachte. Es war der Alte Mann des Stammes, und das war sowohl sein Rangtitel wie auch gleichfalls sein tatsächlicher Zustand. Er hatte schon weit länger gelebt als irgend jemand sonst im Volk. Und als Hüter der Chronik genoß er das Privileg, sein Leben bis zu seinem natürlichen Tode zu Ende leben zu dürfen. Thaggorans Rücken war gekrümmt, die Brust hohl und eingefallen, seine Augen waren beständig gerötet an den Lidern und wässerten, und sein Pelz war grauweiß von seinen Jahren. Jedoch, es steckte Lebensmut in ihm und Kraft. Thaggoran verbrachte sein Leben in tagtäglicher Verbindung mit den verflossenen Epochen, und dies, so glaubte er, war es, was ihn am Leben erhielt und vor dem Verfall bewahrte: diese Kenntnis der vergangenen Weltzyklen, das Wissen und die Verbindung zu der Größe, wie sie in den früheren Zeiten der Wärme üppig gediehen war.
    Seit Wochen schon war Thaggoran durch die uralten Passagen unterhalb ihres Volkskokons gestreift. Schimmersteine hatte er gesucht, kostbare Edelsteine von hoher Leuchtkraft, die sich bei der Weissagung als nützlich erweisen. Die tiefliegenden Gänge, die er durchstreifte, waren von seinen fernen Vorfahren gegraben worden, die blindlings in alle möglichen Richtungen mit unendlicher Geduld durch das lebende Gestein vorgedrungen waren, damals, als sie sich hierher geflüchtet hatten, um vor den explodierenden Sternen und den schwarzen Regen Schutz zu finden, die die Große Welt zerstörten. In den letzten zehntausend Jahren hatte keiner hier einen Schimmerstein gefunden. Aber Thaggoran hatte in diesem Jahr schon dreimal einen Traum gehabt, daß es ihm bestimmt sei, einen neuen Schatzstein zu dem kleinen Vorrat des Stammes hinzuzufügen. Er wußte Bescheid über die Macht der Träume und achtete und schätzte sie. Und darum stöberte er suchend fast täglich in den Tiefen herum.
    Gerade als er sich durch den kältesten, tiefsten Tunnel voranschob, den sie die ‚Mutter des Frosts’ nannten, sich vorsichtig auf Knien und Händen kriechend weiterschob durch die Finsternis und mit seinem Zweiten Gesicht die Umgebung nach Schimmersteinen abtastete, die er – hoffnungsvoll – irgendwo in den Wandungen vor ihm zu spüren gedachte, verspürte er ein fremdartiges plötzliches Beben und Schüttern, ein federleichtes Zucken und Pulsen. Die Sinneswahrnehmung lief bis ans äußerste Ende seines Sinnesorgans, von dem Rückgratende bis in die Verästelungen außerhalb des Körpers bis zur Spitze. Die Wahrnehmung bedeutete, daß Lebewesen sich in sehr geringer Nähe von ihm befanden.
    Schrecküberflutet, blieb er sofort still und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
    Ja. Er fühlte wirklich deutlich die Ausstrahlung von etwas Lebendigem in der Nähe: von etwas Gewaltigem, das sich unterhalb von ihm kreisend drehte wie ein breiter träger Drillbohrer, der sich durch das Gestein voranarbeitet. Etwas war hier unten in diesen kalten lichtlosen Tiefen lebendig und stocherte ziellos im kalten dunklen Herzen des Berges umher.
    »Yissu!« murmelte Thaggoran und vollzog das rituelle Zeichen des Beschützers. »Immakis!« flüsterte er und machte das Zeichen des Versorgers. »Dawinno! Friit!«
    Ehrfürchtig und ängstlich preßte Thaggoran die Wange an den rauhen Steinboden des Tunnels. Er drückte die Fingerpolster gegen den eisigen Stein. Er lenkte sein Zweites Gesicht nach außen und nach unten. Er ließ sein Schweif-Sinnesorgan in weitem Kreisbogen schweifen.
    Stärkere Sinneseindrücke, unverkennbar, unmißverständlich, strömten in ihn ein. Es schauderte ihn. Nervös befingerte er das
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