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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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Prolog
    … um sie erst wieder weit zu öffnen, als ich schon auf der Trage lag.
    In mir pulsierte etwas, drohte aus dem Rhythmus zu geraten, vibrierte.
    Die Krankenträger brachten mich zum Ausgang. Der hintere, mit etwas gekrümmtem Rücken, die breitknochigen Handgelenke mit rötlichen Haaren bewachsen, hatte eine hohe, beulige, schweißbedeckte Stirn.
    Die Decke des Studios glitt vorüber, dann das Dach der Vortreppe. Die Krankenträger begannen die Stufen hinabzusteigen, und mein Kopf stieß dem, der voranging, ins Kreuz.
    »Heb ihn an, heb ihn an!«, rief der hintere, und es gab einen unangenehmen Ruck.
    Sie versuchten mich in das Auto hineinzuschieben, aber irgendwie klemmte die Trage, und wieder ruckte es. Ich gab einen stöhnenden Laut von mir. Nicht, weil es wehtat. Einfach so. Während die Krankenträger schimpfend dem Problem beizukommen suchten, stöhnte ich weiter. Zu ärgerlich! So eine mühselige Arbeit mit den sechsunddreißig Negativen! Das hätte doch im Handumdrehen erledigt sein müssen!
    Irgendwelche unbekannten, neugierigen Visagen huschten vorbei, darüber, hoch oben, dahinziehende Wolken. Stinkende Abgase, Staub.
    Dazu diese Deppen von Krankenträgern!
    Dazu dieser unrasierte, picklige Arzt mit seinen roten entzündeten Augen!
    Den Arzt nervte ich. Damit, dass ich noch am Leben und er gezwungen war, sich mit mir abzugeben – während meine ungebetenen Gäste einfach in die beiden anderen Fahrzeugen verfrachtet wurden. Die Beine voran. Dort klemmte nichts.
    Der Arzt hockte sich hin, ließ die Schlösser einer großen Metallkiste aufschnappen. Sein verschlafenes Gesicht verschwand hinter dem Deckel. Und tauchte wieder auf.
    »Gleich gibt es eine Kampferspritze«, stellte mir der Arzt, als er meinen Blick auffing, unter Gähnen in Aussicht und zwinkerte mir zu.
    Ich hätte das Bewusstsein verlieren, mich ausklinken mögen, doch ich war ganz in Ordnung.
    Zum Krankenhaus ging es im Eiltempo. Und dort wurde ich ohne Verzug auf eine Rollbahre gehievt. Die Nadel spießte wie von allein in meine Vene: Meinen Organismus speiste jetzt etwas Durchsichtiges. Aus einer umgestülpten Flasche mit Maßeinteilung.
    Meine Kleidung war irgendwo abgeblieben: Bis auf diese formlosen Dinger an den Füßen hatte ich nichts an.
    Die Räder der Rollbahre quietschten.
    Aus mir floss es nur so heraus, und das untergelegte Laken klebte an meinem Rücken.
    Ich hatte das Bedürfnis, mich zu kratzen, abzuhusten.
    Ich überlegte, dass die Retusche tatsächlich nicht nur ein Verfahren ist, Mängel einer Aufnahme zu beheben. Nicht einfach Arbeit mit Negativen oder Positiven. Und – in meinem Fall – kein Versuch, das, wovon der Abzug gemacht wurde, zu verändern. Die Retusche ist ein Lebensstil!
    Ein Lebensstil! Dieser Gedanke gefiel mir. So sehr, dass ich bereit war, ihn als meine Erkenntnis weiterzugeben. Egal an wen.
    Da vermeinte ich zu hören, dass sich jemand an mich wandte. Flüsternd. Oder mit Donnerstimme. Von links. Oder von rechts oben. In einer unverständlichen Sprache. Doch konnte ich alles verstehen.
    »Diesen Artikel hast du nicht gelesen?«, wurde ich gefragt. »Nein? Ein sehr interessanter Artikel!«
    Und ich begriff – mein Vater sprach mit mir! Er ging neben der Rollbahre her, schlug im Gehen eine Zeitung auf und schickte sich offenbar an, ihn mir vorzulesen. Ich lächelte verlegen dem die Rollbahre schiebenden nebligen Fleck zu – mein Vater hatte eben seine Schrullen –, wollte mich bequemer hinlegen, und …

Erstes Kapitel
    … und da blickte mein Vater von seiner Zeitung auf.
    Längst an alle seine Grimassen gewöhnt, kannte ich diese am besten. Binnen zwei, drei Sekunden – solange sein Blick noch nicht dem meinigen begegnete – verwandelte sich sein Gesicht. Er ließ die Zeitung sinken, und vor mir sah ich die Maske eines alten Zynikers. Was diese Fältchen um die Mundwinkel und das leichte Zusammenkneifen der Augen bedeuteten, wusste ich nur zu gut!
    Mit den Jahren wechselten die Zeitungen – an jenem Abend las er natürlich die Prawda , studierte regelrecht die vorletzte Seite, den entlarvenden Artikel über das Wüten der israelischen Soldateska –, mindestens dreimal wechselten die Sessel, und auch an meinem Vater gingen Veränderungen vor sich. Die Brille und die Glatze, die waren schon immer gewesen, doch sein zunehmend gekrümmter Rücken! Doch der dünner werdende Hals! Die Falten, der immer schmallippigere Mund! Die Pigmentflecken zu guter Letzt, die unter den grauen Haarbüscheln
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