Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
Vom Netzwerk:
Geschichte zu erzählen, immer wieder, um den Verstand zu beschäftigen, damit er sich nicht selbst kurzschließt, aber WUMM! ich kann das nicht. Ich kann mir nicht selbst diese Geschichte erzählen, weil die WUMM! Einschläge immer näher kommen und das mintgrüne Krankenzimmer vibriert, die Balken knarren, der Putz bröckelt von der Decke und fällt auf mich wie Blüten von einem Pflaumenbaum, und zugleich bin ich aus irgendeinem Grund hier oben und schaue runter, runter, und das Firmament löst sich im kalifornischen Regen auf und mein Herz steigt meine Speiseröhre hinauf, in meine Kehle hinein, in meine Augenhöhlen, in meine Gedanken, und dort pocht es, WUMM! während ich mir wünsche, ich wäre im Gefängnis, ich wäre im Loch, ich würde auf Händen und Knien nach einem WUMM! Knopf suchen, anstatt das Donnern der Granaten in diesem verfluchten Krankenhaus ertragen zu müssen, den donnernden Regen, das Donnern in meinem Kopf, das Donnern meiner Erinnerung, von Kugeln und Baumteilen, das Donnern von Mutter, dem Donnern von rotem Haar, das Donnern unzuverlässiger Muskeln, diedort unten in der flüchtigen Welt unbeweglich werden, dort unten, wo mir in mein (donnerndes) vergängliches Ohr der Gehweg die Wahrheit flüstern wird WUMM!

    sponsored by www.boox.to

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.
    Lieber Sohn,
    Wo bist Du? Lebst Du?
    Ich schreibe Dir, obwohl ich diese Dinge nicht weiß. Ich schreibe dies, weil ich muss, weil ich Dir etwas sagen muss, das ich nicht sagen kann, nie sagen konnte, nicht mal mir selbst. Aber es bringt mich um.
    Alle behaupten, Du seist tot. Leute, von denen ich seit Jahren nichts gehört habe, rufen an und sprechen mir ihr Beileid aus, schicken Lebensmittel, Geld, sagen: Wenn du etwas brauchst …
    Ich spende, was sie mir schicken. Ich glaube ihnen nicht. Ich weiß, dass Du lebst. Ich weiß es einfach.
    Amerikaner haben mir Bilder eines Toten geschickt, den ich identifizieren sollte. Ein Brei aus Fleisch, Innereien und Knochensplittern. Sie sagen, du wärst von einem Gebäude gesprungen, hättest dich umgebracht. Sie sagen, sie haben unvollständige Fingerabdrücke. Aber das warst Du nicht, oder? Sie konnten Deine Blinddarmnarbe nicht finden. Waren nicht sicher. Sie konnten das Muttermal unter dem Knie nicht finden. Nicht beweiskräftig , haben sie gesagt. Die Leiche hatte gutes Haar, so wie Deines, aber es war zu grau für Dich. Man kann nicht über Nacht grau werden, oder? Sie sagen, es ist möglich, aber ich glaube es nicht. Wie sollte ich?
    Dein … Vater hat die Identifizierungsunterlagen oder was auch immer unterzeichnet, und jetzt glauben alle diesenBlödsinn. Find dich damit ab, sagte er, als ich ihn anrief und anflehte, es nicht zu tun. Er fackelt nicht lange, wenn er jemanden fallenlässt. Mich wollte er auch fallenlassen, aber ich lebe auch noch, nicht wahr? Das war das letzte und einzige Mal, das ich mit ihm gesprochen habe.
    Jetzt habe ich versucht, Dir das Unmögliche (die Wahrheit) zu schreiben, das, was ich mir nicht eingestehen kann, nicht eingestehen konnte, auch jetzt nicht. Was für eine Überraschung. Aber ich hab es wirklich versucht, mein Sohn. Menschen sind keine Heiligen. Manches lässt sich nur persönlich sagen. Die Zeit dafür wird kommen, so Gott will.
    Aber wenigstens kann ich Dir die Neuigkeiten schreiben. Dein Bruder ist nach Sarajevo gezogen, um zu studieren und von deinem Vater wegzukommen. Sie haben sich entsetzlich gestritten, habe ich gehört. Er studiert Pharmakologie und ist mit einem Mädchen zusammen, will aber nicht, dass ich sie kennenlerne. Entweder schämt er sich, weil ich religiös bin oder weil ich verrückt bin, oder beides. Er ruft ungefähr einmal im Monat an.
    Asmir hat in Schottland einen Dokumentarfilm über eure Truppe gemacht, der schon zweimal im Fernsehen gelaufen ist. Mehmed hat ihn für mich aufgenommen. Ich sehe ihn jeden Tag, so oft, dass die Stellen, an denen Du vorkommst, ganz abgenutzt sind, die Bilder tanzen auf und ab. Asmir kam im August zu Besuch, er hat mir Tulpen und Bonbons mitgebracht und ein bisschen um Dich geweint. Er hat mir eine DVD von dem Film mitgebracht, aber ich habe noch kein Abspieldings. Er sagte, Bokal habe eine zwanzig Jahre ältere Frau geheiratet, um legal in England bleiben zu dürfen. Außerdem hat er gesagt, Dein Freund Omar habe nach einer Überdosis einen Entzug gemacht, jetzt gehe es ihm besser. Wo Ramona ist, wusste er nicht, weil sie sich zerstritten hatten.
    Dein Freund Eric
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher