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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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sagen.
    »Tu nicht so, als hättest du’s gewusst«, sagte sie.
    »Einen Mähdrescher muss man vor dem Tanken ausmachen, sonst besteht Brandgefahr«, erklärte er nachdrücklich. »Dasselbe gilt für Flugzeuge. Eine Maschine ist eine Maschine.«
    »Ja, ja, du weißt wieder alles.«
    »Halt den Mund, Frau.«
    Angefangen hatte es mit Politikern, die im Fernsehen über Nationalitäten und die Verfassung stritten. Jeder behauptete, sein Volk sei bedroht.
    »Ich dachte, wir sind alle Jugoslawen«, sagte ich zu meiner Mutter, obwohl ich es mit fünfzehn eigentlich schon besser wusste. Man hätte hinter dem Mond leben müssen, um nicht zu kapieren, dass die Kacke demnächst am Dampfen sein würde. Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Vielleicht hatte man mir das kommunistische Credo von Brüderlichkeit und Einigkeit so gründlich eingebläut, dass es sich automatisch Bahn brach und meine tatsächlichen Erfahrungen entwertete. Sie sagte, ich solle die Klappe halten, und stellte den Fernseher lauter.
    Dann kamen die ersten Berichte: Belagerungen, zivile Opfer, Konzentrationslager, Flüchtlinge. Wo man auch hinsah, wurden Kroaten und Muslime von serbischen Paramilitärs und der jugoslawischen Volksarmee abgeschlachtet, die, wie sich jetzt herausstellte, wohl doch nicht die Armee aller Völker Jugoslawiens war.
    »Welche sind wir?«, fragte ich meine Mutter. Ich stellte mich immer noch dumm, in der Hoffnung, mein Nichtwahrhabenwollen könne die Bilder vertreiben, meine Angst vertreiben, alles wieder normal machen. Erneut forderte sie mich auf, die Klappe zu halten, dann drehte sie noch lauter, bis der Nachbar unten mit dem Besenstiel an die Decke klopfte und meine Mutter den Fernseher leiser stellte.
    Welcher Nationalität man angehörte, war urplötzlich von allergrößter Bedeutung. Es gab Berichte über serbische Paramilitärs, die alle Männer aufhielten, die Bosnien verlassen wollten und ihnen befahlen, die Hosen runterzulassen, um zu beweisen, dass sie Serben waren. Wer beschnitten war, den kostete es seinen Arsch.
    Dann standen sämtliche bosnischen Groß- und Kleinstädte, die sie nicht schon überrollt hatten, unter Belagerung. Jahrelang. Zivilisten fällten Bäume im Park, wurden auf Fußballplätzen beerdigt, verfeuerten Bücher und Möbel, hielten Hühner auf dem Balkon, reparierten Schuhe mit Klebeband, jagten und aßen Tauben, bauten Öfen aus alten Waschmaschinen, züchteten Pilze im Keller, ersetzten kaputte Fensterscheiben durch schmutziges Plastik, drehten durch und sprangen von Hochhäusern, verdünnten Brennspiritus mit Kamillentee, damit er nicht mehr feuergefährlich war, und tranken ihn, drehten sich Kräuterteezigaretten aus Klopapier, litten, hofften, warteten, fickten.
    Die Behörden räumten die Gefängnisse und Irrenanstalten, weil die Insassen und Patienten nicht mehr versorgt werden konnten. Diebe und Mörder kehrten zu ihren Familien zurück. Verrückte liefen in den Städten herum und machten komische Sachen (Leute mit Wassermelonen vergleichen) oder traurige Sachen (hinter Kirchen erfrieren). Soldaten kämpften für sie alle und für sich selbst. Mein Vater, ein Chemieingenieur, hatte Glück. Er erfand ein Gerät, mit dem sich Industriefett in essbares Fett verwandeln ließ, und bekam dafür zehntausend Deutsche Mark von einem kleinen Unternehmer und Kriegsgewinnler, die uns retteten. Meine Mutter aß gerade genug, um zu überleben, weil sie es nicht schaffte, mit dem Rauchen aufzuhören und deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Sie rationierte ihre Zigaretten, so gut sie konnte, lief wie ein ruheloser Geist in der Wohnung herum, spielte Solitaire und zählte die Sekunden bis zur nächsten Kippe. War das Päckchen fast voll, klauten ihr mein Bruder und ich manchmal eine Zigarette und versteckten sie irgendwo in der Wohnung, nur um sie unerwartet hervorzuzaubern, wenn sie keine mehr hatte, und ihre Augen einen Moment lang leuchten zu sehen. Später brach es uns das Herz, wenn wir sahen, wie sie auf der Suche nach unserem Versteck mit den Fingern über den großen Wandteppich im Flur strich, wie ihre Zeigefinger ihre Lippen berührten und ihr Blick loderte.
    Die Flughafengänge leuchteten majestätisch. Wir bewegten uns im Strom der Passagiere. Man konnte sehen, wer Flüchtling war und wer nicht – Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Schritt. Die Einheimischen und die Touristen gingen zügig, wollten es hinter sich bringen, den nächsten Flieger erreichen und woanders sein. Ihre Körper waren
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