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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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mit magentafarbener Bettwäsche, ein Fernseher, zwei Nachttische mit Lampen, ein Tisch, zwei Stühle und ein Telefon. Esroch nach Orangenscheuermilch und Staub, nach Verdunkelung und verdeckten FBI-Operationen, nach bezahltem Sex und Verbrechen aus Leidenschaft, nach Selbstmitleid und Alkohol und den Halluzinationen eines Junkies – dem ganzen Zeug, das ich aus amerikanischen Filmen kannte.
    Ich wollte mich einschließen, aber der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Ich versuchte es in beiden Richtungen, aber er gab nicht nach. Ich öffnete die Tür, schloss sie und versuchte es erneut. Nichts.
    Als ich durch den Spion schaute, sah ich zwei Mädchen, Teenager, kichernd am Pepsi-Automaten stehen. Eine trug ein Kopftuch und sah europäisch aus; ich fragte mich, ob sie Bosnierin war. Sie bedeckte ihren Mund, wenn sie lachte. Die andere sah arabisch aus, trug aber eine zerrissene Jeans, die ihre schorfigen Knie entblößte. Ihre Gesichter glühten abwechselnd rot und blau. Ich war immer ein Einzelgänger gewesen und stolz darauf – mit Menschen musste man entweder klarkommen oder ihnen aus dem Weg gehen. Aber jetzt, da ich auf einem abgewetzten beigefarbenen Teppich stand, an meinem ersten Abend in Amerika, sehnte ich mich nach einem Menschen, egal wem.
    Dann spürte ich, wie sich mir der Magen umdrehte. Irgendwann hatte sich die unterdrückte Kotze in Scheiße verwandelt. Ich rannte ins Bad, und sie brach mit Sturmböen und Donnerschlägen aus mir heraus. Als ich fertig war, fühlte ich mich herrlich, wie neugeboren.
    Trotzdem wollte ich nicht, dass sich jemand zu mir hereinschlich, während ich schlief, und mir die Kehle durchschnitt oder mich mit einem chloroformgetränkten Tuch betäubte, auf den Strich schickte oder zwang, vierundzwanzig Stunden täglich in einem unterirdischen Meth-Labor zu schuften. Ich hatte keine Lust, aufzuwachen und festzustellen, dass mir Nieren, Leber, Herz oder Augäpfel fehlten. Ich bin in Amerika , dachte ich, und das bedeutete, ich war in einem Film;dass ich die Tür von innen nicht abschließen konnte, war eines jener kleinen Details, aus denen sich entsetzliche Handlungsstränge entspinnen konnten.
    Ich war paranoid. Ich sah noch einmal durch den Spion – nichts außer den roten, weißen und blauen Lichtern, die mir sagten, dass ich Durst hatte. Die Mädchen waren weg. Ich machte die Tür auf und untersuchte das Schloss, vergeblich. Ich zog den Tisch heran und klemmte ihn unter die Klinke. Um reinzukommen, müsste der irre Crackhead schon sehr fest drücken, was Krach machen und mich wecken würde, und das war meine beste Überlebenschance. Jetzt brauchte ich noch eine Waffe.
    Jemand klopfte an die Tür, und mein Herz hämmerte in meiner Brust wie ein wütendes Baby. Ich sah durch den Spion: der Fahrer. Ich zog den Tisch weg und machte die Tür auf.
    »Indisch?«, fragte er und sah auf seinen Zettel.
    »Indisch, ja.«
    Er übergab mir zwei Styroporbehälter und malte ein Häkchen neben meinen Namen.
    »Morgen um sechs«, sagte er und wollte gehen.
    »Äh …«, setzte ich an, und er blieb stehen.
    »Was?«
    »Mein, äh … mein … mein Schlüssel«, stammelte ich, »ich, äh … ich kann, äh … nicht von innen abschließen.«
    Er sah mich mit unverhohlener Verachtung an.
    »Ist automatisch. Man muss nichts machen. Einfach die Tür zu, dann ist sie abgeschlossen.«
    Bevor ich aß, klemmte ich erneut den Tisch unter die Türklinke, außerdem stellte ich die Stühle und mein Gepäck davor. Scheiß Fahrer , dachte ich, vielleicht steckt er mit denen unter einer Decke.
    Die Dusche hatte nur einen Knauf mitten in der Wand, und ich kriegte nicht raus, wie man das Wasser heiß bekam,falls es überhaupt heißes Wasser gab. Ich schaffte es nur, dass es nicht ganz eiskalt war, dann stellte ich mich drunter, seifte mich kurz ein und spülte mich ab. Das dauerte höchstens zwei Minuten, aber als ich fertig war, hatten meine Lippen die Farbe von Auberginen.
    Auf Kanal 4 kamen Nachrichten – schnelles, unverständliches Englisch, das ich in Abwesenheit von Menschen aus Fleisch und Blut trotzdem tröstlich fand. Ich zitterte unter der Decke, hörte das Klack-Klack von Frauenabsätzen draußen vor meinem Fenster und riskierte einen Blick durch die magentafarbenen Vorhänge und ein Gitter hinauf zur Straße. Ich sah die Beine einer Frau und einen großen Mann in einem Nerzmantel, der die Frau an beiden Handgelenken packte und anschrie.
    Ich bleibe die ganze verdammte Nacht auf , sagte ich mir,
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