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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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stromlinienförmig. Wir Flüchtlinge gingen wie Schlafwandler, klammerten uns an unser Handgepäck, hielten es schützend zwischen uns und die neue Welt. Unsere hungrigen Blicke tasteten die Plakate ab, die für Alkohol und Disneyworld warben, den gefliesten Boden, unser grobes Schuhwerk, unsere knorrigen Knie und unsere Hände vor diesem unvertrauten Hintergrund. Wir sogen alles auf, berauscht und wachsam zugleich.
    Dann stellte sich heraus, dass das, was ich für einen kurzen, stillen, unentdeckten Rülpser gehalten hatte, ein Mundvoll käsige Magenflüssigkeit war. Ich blieb stehen, ließ meine Tasche an die Wand fallen und würgte die brennende,stinkende Brühe hinunter. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich schluckte immer wieder, versuchte meine Kehle einzuspeicheln. Dann merkte ich, dass niemand an mir vorbeiging. Als ich mich angewidert und mit verzerrtem Gesicht umdrehte, sah ich, dass die Bosnier eine Schlange hinter mir gebildet hatten, warteten und gespannt guckten. Sie waren mir gefolgt. Selbst die wenigen, die vorausgegangen waren, hatten jetzt haltgemacht und sich umgesehen.
    »Alles klar, Kumpel?«, fragte der Mähdrescherfahrer, der seine engelsblonde Tochter wie einen Sack Getreide auf den Armen trug. Seine Frau, die ein weißes Kopftuch anhatte, zog zwei Taschen hinter sich her und schaute finster.
    » Žgaravica «, brachte ich heraus und alle machten mitleidige Gesichter. Magenverstimmung. Ich nahm meine Tasche und ging weiter, schluckte. In meinem Mund, meiner Kehle und meiner Brust war Gifteiche.
    Einerseits war ich stolz, dass fünfzig Leute stehen blieben, wenn ich stehen blieb, und gingen, wenn ich ging. Andererseits waren sie mir peinlich, ihre bäurische Ahnungslosigkeit, ihre hilfesuchenden, verwirrten Blicke. Ich kämpfte den Impuls nieder, wegzulaufen, mich unter die Einheimischen und die Touristen zu mischen, ihre Bewegungen nachzuahmen, die Augen zu verdrehen, weil es in der Schlange so langsam voranging, so zu tun, als hätte ich es eilig. Einer von ihnen zu werden.
    Die Gänge spuckten uns in einen riesigen Raum. Dort stand eine uniformierte Schwarze und wedelte mit der Hand, erst nach rechts und dann, ebenso beflissen, nach links. Ihr Lippenstift war grellrot, und selbst aus der Entfernung sah man, dass sie etwas davon auf den Zähnen hatte.
    » Citizens and resident aliens, line up to the right. Everyone else keep left «, sagte sie und musterte ungeduldig eine sechsköpfige bosnische Familie, die völlig ratlos wirkte. Sie waren wie angewurzelt stehen geblieben, glotzten die Frau an undhielten ihre Mappen mit den Flüchtlingsunterlagen hoch wie Transparente auf einer Demonstration. Der Verkehrsfluss stockte.
    »Links«, rief ich auf Bosnisch, die Familie zögerte und drehte sich zu mir um. Als ich nickte, nahmen sie ihre Mappen herunter und stellten sich links an, vergewisserten sich aber, dass ich es ihnen gleichtat.
    Die Schlange rechts bewegte sich schnell. Einwanderungsbeamte winkten die Amerikaner zu sich an ihre Boxen, schlugen Pässe auf, sagten etwas, stempelten ab, klappten die Pässe wieder zu und hießen sie lächelnd zu Hause willkommen. Schon bald war die rechte Seite des Raums vollkommen leer – bis die nächste Welle Amerikaner von einem anderen Flug hereinströmte.
    Links stand alles dichtgedrängt, eine kompakte Masse Ausländer, die sich Zentimeter für Zentimeter durch ein eintöniges Labyrinth bewegten. Vorne war das Übertreten der gelben Linie ein Problem. Beamte wiederholten angewidert immer dasselbe, die Flüchtlinge blickten zu Boden und fragten sich, warum zum Teufel diese Amerikaner bloß so schrien und auf die Fliesen zeigten. Sie tasteten ihre Taschen ab, um festzustellen, ob sie etwas Wichtiges verloren hatten, und zuckten mit den Schultern.
    Als ich an der gelben Linie war, stellte ich mich so dicht wie möglich davor, ohne sie zu übertreten, wie bei einem Freiwurf. Mein Herz erschütterte meinen Körper; ich konnte es hinter meinen Augen spüren, seitlich am Hals, in den Fingerspitzen, den Zehen. Einen Augenblick lang vergaß ich meinen wunden Rachen, den fauligen Klumpen in meinem Magen, den schlechten Geschmack in meinem Mund. Ich starrte auf die Anzeige der nächsten freien Box und betete still, sendete positive Schwingungen, stellte mir einen optimalen Verlauf vor.
    Die Anzeige schaltete auf eine blinkende Elf. Ich schluckte,trat über die gelbe Linie und ging zu einer Box, aus der mich ein junger Sikh höflich, aber emotionslos ansah. Ich
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