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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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(… auszug aus notizbuch eins: die flucht von ismet prcić …)

    In Zeiten des Krieges, als sein Land ihn am dringendsten brauchte – seinen Finger am Abzug zur Verteidigung, seinen Körper als Schild, seinen Verstand und seine Menschlichkeit als Opfer für künftige Generationen, sein Blut als Dünger der Erde –, in diesen höchst drängenden Zeiten dauerte Mustafas Gefechtsausbildung zwölf Tage. Genau vierundzwanzig Mal lief er über den Hindernisparcours, er warf sechs Handgranatenattrappen aus verschiedenen Entfernungen durch einen LKW-Reifen, übte mit einem Luftgewehr seine Treffsicherheit, um keine Kugeln zu verschwenden, ließ sich in Decken wickeln und von seinen Kameraden verprügeln, weil er mindestens einmal im Schlaf gesprochen hatte. Er machte unzählige Liegestütze und Sit-ups, Klimmzüge und Kniebeugen, Ausfallschritte und Armbeugen, stumpfsinnige Wiederholungen, die nicht seiner Fitness dienten, sondern ihn brechen sollten, damit ihm der Ausbilder der Sonderkommando-Aspiranten anschließend die Hierarchien eintrichtern und einen effizienten Kämpfer aus ihm machen konnte – einen, der zu viel Angst hat, um sich Befehlen zu widersetzen, und der verdammt noch mal stirbt, wenn man ihm sagt, dass er verdammt noch mal zu sterben hat.
    Irgendwann gab man ihm echte Waffen in die Hand. Das ist eine Uzi, so funktioniert die, wir haben aber keine Uzis, also vergiss, was du gerade gelernt hast. Das ist eine LAW, so funktioniert die, wir haben aber nur eine begrenzte Anzahl davon und die kriegen die Leute, die schon wissen, wie man damit umgeht, du also nicht, also vergiss, was du gerade gelernt hast. Und so weiter.
    Der Messerspezialist brachte ihm bei, wohin man das Messer stößt und was es in einem Körper anrichtet, und so stach er auf baumelnde Sandsäcke ein, mit Zeichnungen von Menschen darauf. Der Minenspezialist zeigte ihm, wie man Antipersonen- und Panzerabwehrminen legt und erläuterte ihre jeweiligen tödlichen Vorzüge. Der Feldarzt nahm einen Schluck Sliwowitz, behauptete, der Krieg sei ein einziger Scheiß, und sagte ihm, er solle bloß nicht noch mal zu ihm kommen, es sei denn, er habe eine so große Bauchverletzung, dass man mit einem Kanu durchpaddeln könne. Dann waren die zwölf Tage vorbei.
    Zum Schluss bekam er wie alle anderen auch eine Kalaschnikow, einen Ladestreifen, eine Handgranate und ein Messer und wurde eine Woche lang mit der ganz normalen Armee in die Schützengräben geschickt, um einen Vorgeschmack dessen zu bekommen, was der Krieg zu bieten hatte, um sozusagen die Gebrauchsanweisung zu lesen, bevor entschieden wurde, für welches Sonderkommando er sich eignete.

(… käse …)
    Als der KLM-Flieger endlich amerikanischen Boden berührte, brach unter den aufgeregten Bosniern in den hinteren Reihen – Menschen, für die Flugzeuge noch wenige Monate zuvor schmale Kondensstreifen gewesen waren, die sich geräuschlos kreuz und quer über den Himmel ihrer gottverlassenen Dörfer zogen – spontan Applaus aus. Ich klatschte mit, trotz des flauen Gefühls im Magen, das mir der Käse und das Obst bescherten, die wir irgendwo über England bekommen hatten. Der Käse war gelb gewesen und möglicherweise ranzig, und während des gesamten Fluges war ich auf der Suche nach einer nicht besetzten Toilette die Gänge rauf und runter gerannt, bis ich endlich – ungelenk vor einer winzigen Schüssel kniend – merkte, dass ich mich nicht übergeben konnte.
    Diese Leute, meine Leute, die Flüchtlinge, waren zunächst mal froh und seltsam perplex. Sie lächelten, zogen aber aufgrund des unverständlichen Gebrabbels aus den Lautsprechern besorgte Gesichter. Das Flugzeug kam am Flughafen JFK zum Stehen, doch die kleine Gurtschnalle neben der durchgekreuzten Zigarette über unseren Köpfen leuchtete noch. Da saßen wir. Der Mann vor mir, ein junger Kerl mit Ehefrau und Tochter und einem Mund voll katastrophaler Zähne, schob seinen Kopf über die Lehne seines Sitzes und blickte mich durch seine Brillengläser an.
    »Sind wir da oder wird nur aufgetankt?«, flüsterte er mir auf Bosnisch zu, seine Augen traten hervor, halb ängstlich, halb verlegen. Trotz seines Versuchs, diskret zu sein, hattenihn alle gehört und sahen nun mich an, den einzigen Bosnier an Bord, der ein bisschen Englisch sprach.
    »Wir sind da«, murmelte ich und nickte.
    Zustimmendes Raunen verbreitete sich von Sitz zu Sitz. Der Mann drehte sich wieder um.
    »Hab ich mir doch gedacht«, hörte ich ihn zu seiner Frau
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