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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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doch dann wachte ich um halb sechs vom Klingeln meines Weckers auf, lebendig und unbehelligt, alle Organe intakt.
    Der Fahrer fuhr uns zum Flughafen. Die Afrikanerin saß diesmal hinter mir, so dass ich aus dem Fenster schauen konnte. Hauptsächlich sah ich New Yorker Autofahrer im Profil, die aus Thermosflaschen tranken, aus geöffneten Fenstern schrien, mit der flachen Hand auf Armaturenbretter schlugen, rauchten, sich schminkten, sangen, dösten, gerade noch rechtzeitig aufwachten, um zu bremsen, Luftgitarre spielten und mich mit diesem Was-glotzt-du-so-blöd-Blick ansahen.
    Enes stieß in LaGuardia wieder zu uns, zeigte mir, wo ich auf meinen Flug nach Los Angeles warten sollte, reichte mir seine schlaffe Hand zum Abschied und verzog sich. Wieder saß ich auf einem Plastiksitz und wartete.
    Ich dachte, du hast es geschafft, Mann , und konnte es nicht glauben. Ich betrachtete meine Hand, dieses Ding, das schon mein ganzes Leben lang zu mir gehörte, und es war, als würde ich sie zum ersten Mal sehen. Sie kam mir nur entferntbekannt vor, und doch hatte ich irgendwie die Kontrolle über sie; das war meine Hand, ich konnte sie benutzen. Dann blickte ich auf, suchte nach einer Bestätigung dafür, dass dies wirklich Amerika war, dass der Platz neben mir Teil dieses Landes war, dann legte ich meine fremde Hand auf die kühle Plastikoberfläche und sagte mir noch einmal: Du hast es geschafft. Du bist entkommen .
    Vor mir hatten zwei andere Prcićs dieselbe Reise unternommen. Mein Großonkel Bego war vor dem Einmarsch der Nazis über Paris geflohen, hatte sich in einer Wohnung in Flushing Meadows niedergelassen und war dort alleine gestorben. Und mein Onkel Irfan war 1969 vor den Kommunisten geflohen und in Kalifornien gelandet, und jetzt, sechsundzwanzig Jahre später, hatte er mich eingeladen, bei ihm zu wohnen. Wir wurden alle in derselben Stadt geboren, flohen aber aus drei verschiedenen Staaten. Bego aus dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Irfan aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Und ich aus dem neu gegründeten, unabhängigen Staat Bosnien und Herzegowina. Was einiges über den Balkan aussagt: jede Menge Regimes, die nicht lange halten und die Leute zur Flucht treiben.
    Plötzlich hatte ich die Stimme meiner Großmutter väterlicherseits im Ohr. Sie hatte mir einmal erzählt, wenn Bego oder Irfan zu Besuch nach Bosnien kamen, seien sie ihr immer wie Fremde vorgekommen. Nicht wiederzuerkennen. Sie gab Amerika die Schuld daran.
    Ich betrachtete meine Hand.
    Durch das Flughafenfenster sah ich einen Obdachlosen in einer schmutzigen Tarnjacke mit dem Rücken zu mir am Bordstein sitzen und mit einer Schäferhündin spielen. Er entwand ihr eine Dr.-Pepper-Flasche und warf sie über den Bürgersteig. Die Hündin rannte ihr nach, ich sah die Bewegung ihrer geschwollenen Zitzen, dann brachte sie dieFlasche zu ihrem Herrchen und die Szene wiederholte sich. Wie gebannt saß ich da, erneut schoss mir durch den Kopf, dass ich es geschafft hatte, dass ich mir wünschte, ich hätte einen Hund oder etwas Warmes zum Anfassen. Jemanden, dem ich in die Augen sehen konnte. In diesem Moment brach die Morgensonne durch die Wolken, und ihr Licht traf das Fenster so, dass ich plötzlich auf mein Spiegelbild blickte. Ich sah einen jungen Mann, der alleine auf einem Plastikstuhl saß, angespannt, mit aufgerissenen Augen, pickelig, glücklich und fassunglos. Plötzlich wusste ich, warum meine Großmutter ihren eigenen Sohn nicht wiedererkannt hatte, warum ich eine fremde Hand am Körper trug. Ich wusste, dass sich ein anderer von diesem Plastikstuhl erheben und das Flugzeug nach Los Angeles besteigen würde, und dass ein achtzehnjähriger Ismet für immer in der belagerten Stadt bleiben würde, inmitten eines niemals endenden Krieges.
    So plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Sonne wieder. Der Obdachlose warf die Flasche. Die Hündin rannte hinterher. Ich betrachtete meine Hand, ich schaute mich um. Ich war neu hier, und Amerika kam mir zu groß vor, um darin allein zu sein.
    Von oben sah Los Angeles riesig und grau aus, gesprenkelt mit hellblauen Swimmingpools. Unten, nach der Landung, war es warm, mitten im Winter. Das war komisch. Durch die Fenster des Terminals sah man Palmen, und die Leute trugen tatsächlich Sandalen.
    Ich bog aus einem Gang und erblickte einen Mann und eine Frau Mitte fünfzig, beide weiß und bekleidet mit glänzend rot-weiß-blauen-Kitteln und Zylindern mit Sternen
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