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Scherben

Scherben

Titel: Scherben
Autoren: Ismet Prcic
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darauf. Sie verteilten etwas an die vorbeiströmenden Menschen. Breit lächelnd trat die Frau auf mich zu.
    »Hallo, Sir!«
    »Hallo.«
    »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
    Sie sprach langsam und deutlich. Worüber ich froh war.
    »Ja.«
    »Wo kommen Sie her, Sir?«
    »Aus Bosnien.«
    »Ist dies Ihr erster Besuch?«
    »Ich bin Flüchtling.«
    »Sie sind also wegen der Zuwendungen unserer Regierung hier.«
    Sie benutzte die Formulierung government cheese , und sie sagte es sehr laut, sah sich um und schien die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf uns lenken zu wollen.
    »Na schön, Sir, bitte sehr«, sagte sie und überreichte mir ein Stück gelben amerikanischen Cheddar. »Willkommen in Amerika!«
    Ich merkte, dass ich gefilmt wurde. Ich lächelte und winkte mit dem Käse in die Kamera.
    Das ist doch was , dachte ich. In New York wird man beschimpft, in Los Angeles kriegt man von einer Lady in einer amerikanischen Flagge Käse geschenkt .
    Ich wusste, dass mir Los Angeles besser gefallen würde als New York.

Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
September 1998
    Mutter, oh mati , es tut mir leid; alles, was ich dir schreibe, ist gelogen.
    Es geht mir nicht gut.
    Ich habe nicht genug Geld. Thousand Oaks ist teuer. Ich esse einmal am Tag. Ich koche eine Viertelpackung Spaghetti, gieße Campbell’s Pilzcremesuppe drüber, würze mit Salz und Pfeffer von meinem Mitbewohner Eric, außerdem benutze ich Erics Teller und Erics Besteck. Manchmal, wenn er nicht zu Hause ist, nehme ich heimlich einen Schluck von seinem Mountain Dew oder stopfe mir wie ein Affe eine Handvoll Cornflakes in den Mund. Versteh mich nicht falsch, er ist ein guter Mensch. Er gibt mir andauernd etwas ab, aber ich fühle mich dann immer schlecht, ich komme mir vor wie ein Klischee: der arme Junge aus Bosnien. Trotzdem muss mich es annehmen. Auch wenn ich es nicht annehmen kann. Und es dennoch tue. Ich nehme es immer an. Tut mir leid, dass ich nicht ein bisschen mehr bin wie du.
    Ich bin nicht gesund. Ich bin dünner als in Bosnien während des Krieges. Einundzwanzig Stufen führen vom Hof in unser Apartment im ersten Stock, und wenn ich vor der Tür stehe, keuche ich und Blitze zucken am Randemeines Blickfelds. Neulich bin ich morgens ohnmächtig geworden. Ich stand von meiner Matratze auf und schaffte es gerade so ins Badezimmer. Ich sah mich im Spiegel, mit der Zahnbürste in der Hand, und dann sah ich mich nicht mehr. Als ich aufwachte, lag ich auf dem Boden, mein Bauch war aufgeschürft und wund. Im Fallen hatte ich mich am Waschbecken verletzt.
    Ich telefoniere nie mit Onkel Irfan, und ich besuche ihn auch nicht, obwohl er nur fünf Minuten entfernt wohnt. Lieber würde ich mich nackt auf einen Kaktus werfen. Vielleicht erzähle ich dir eines Tages, wie es war, zwei Jahre lang bei ihm zu wohnen. Ich kann ihn nicht mehr ertragen. Er macht mich krank. Daleko mu lijepa kuća.
    Ich studiere nicht Buchführung, sondern Theater und kreatives Schreiben. Tut mir leid.
    Ich habe angefangen, meine Erinnerungen daran aufzuschreiben, wie ich hierher kam. Du wolltest Schauspielerin und Dichterin werden und bist eine unglückliche Krankenschwester geworden. Das kann ich nicht. Ich wünschte, du könntest das Kapitel über meine Ankunft lesen und mir sagen, wie ich weitermachen soll. Ob es was taugt.
    Ich schlafe nicht gut. Genau genommen schlafe ich fast gar nicht. Wenn ich schlafe, träume ich, dass ich zum College gehe und die Leute mit einer Kalaschnikow niedermähe. Ich träume, dass ich Handgranaten aus meinem Autofenster werfe. Ich träume, dass ich erschossen werde.
    Ich kann nicht zum Arzt gehen, weil man hier versichert sein muss, andernfalls zahlt man unfassbare Wucherpreise, also war ich bei einem gewissen Dr. Cyrus, der unentgeltlich Sprechstunden an der Uni abhält, und er hatmir Beruhigungsmittel verschrieben, die ich in mich reinstopfe wie M&M’s.
    Er meint, ich leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er sagt, die Pillen seien nur eine kurzfristige Lösung, und ich müsse meine Erlebnisse als Teil eines größeren Zusammenhangs begreifen, um alles besser zu verstehen. Nur so könne es mir bessergehen.
    Er brachte mich auf die Idee, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Ich habe ihn gefragt, was ich schreiben soll, damit die Therapie funktioniert, und er sagte: Schreiben Sie alles auf . Ich hab gefragt, wo ich anfangen soll und er sagte: am Anfang .
    Zuerst ging es gut; ich schrieb über meine Flucht, meine Kindheit, ich
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