Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
Vom Netzwerk:
 
Prolog
     
    E in voller, tiefer Schrei des Wahnsinns zerriss die Nacht. Es war ein blinder, nicht menschlicher Laut, grauenhaft und abgerissen.
    Die sechs Personen in der großen Blockhütte hoben gleichzeitig die Köpfe, sahen einander an, starrten auf das Fenster, auf die Tür. Ihr Pulsschlag zuckte, die Pupillen wurden groß, Nackenhaare sträubten sich – adrenalingepeitscht alles, Urinstinkte aufgewühlt.
    »Um Himmels willen, was war das?« sagte Mutter.
    Vater stand auf und prüfte den Riegel an der Tür, vergewisserte sich, dass er hielt.
    »Wohl ein Wolf«, murmelte er. Er starrte durch das Fenster in die Nacht hinaus. »Seh’ aber nichts.«
    »Ich hab’ Angst, Mami.« Der kleine Junge, der am Boden saß und gespielt hatte, schaute hinauf. Er war umgeben von kleinen holzgeschnitzten Tieren.
    Seine Mutter wirkte erleichtert, als ihre Gedanken aufs Alltägliche zurückgelenkt wurden.
    »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, Ollie. Das war nur irgendein Coyote.« Mit liebevoller Strenge fügte sie hinzu: »Räum jetzt dein Spielzeug auf, und mach dich fertig fürs Bett.«
    Das schien die Spannung zu lösen, die sich wie Reif über alles gelegt hatte. Ollie sammelte seine kleinen Holzfiguren ein und ging in das andere Zimmer, um sich auszuziehen. Vater ging vom Fenster zum offenen Kamin. Er wärmte sich die Hände, hakte den Kessel über dem Feuer aus und füllte eine Tasse mit heißem Wasser.
    »Will jemand Tee?« fragte er.
    Mutter schüttelte den Kopf. Dicey antwortete nicht. Dicey war fünfzehn Jahre alt, Jungbraut. Joshua, ihr Bräutigam, war seit zwei Tagen auf der Jagd. Es hätten zwei Jahrhunderte sein können. Jedes Geräusch, jedes Umspringen des Windes war Signal für seine Gefährdung. Dieser tierische Laut jetzt bannte ihren Blick an die Tür und hatte alle anderen Laute, auch die des Gesprächs, überdeckt.
    Onkel Jack, Diceys alter Vater, stand langsam aus seinem Schaukelstuhl auf, ging drei Schritte durch den Raum, nahm die schwere Büchse aus der Ecke, wo sie lehnte, und betrachtete sie genau. Rostendes Spannschloss; manchmal ging der Schuss los, manchmal nicht. Jack prüfte die Ladung, rüttelte am Hahn.
    »Geh’ am Morgen vielleicht auf Wolfsjagd«, murmelte er. Wölfe waren vertraute Gefahren, beinah alte Freunde. Onkel Jack spuckte ins Feuer, und der Speichel zischte und hüpfte.
    Selbst die Großmutter löste endlich den Blick vom Fenster und beschäftigte sich wieder mit ihrem Strickzeug. Sie war eine argwöhnische, unnachgiebige alte Dame, viele Mühsaljahre alt. Sie senkte jetzt den Blick, aber auf der Hut blieb sie immer. Die Altersrunzeln in ihrem Gesicht waren ›Preis bezahlt‹ und ›Preis erzielt‹ zugleich.
    »Hilf deinem Vetter, dass er ins Bett kommt, Dicey.« Mutter sagte es leise, um das Mädchen von düsteren Hirngespinsten zu lösen.
    Dicey ging in das andere Zimmer, um Ollie beim Waschen zu helfen. Er saß auf dem Bett und starrte durch das hintere Fenster in die undurchdringliche Schwärze hinaus.
    »Was siehst du?« fragte sie.
    »Glaubst du, Joshua geht es gut?« flüsterte er, ohne sich ihr zuzuwenden.
    »Natürlich. Weshalb denn nicht?« fuhr sie auf. Sie war zornig auf den Jungen, weil er ihre eigenen Ängste aussprach. Wenn die Götter das hörten?
    »Er hat versprochen, dass er mir vorliest, wenn er heimkommt.«
    Dicey wurde weich. Ollie konnte nichts dafür, dass ihr Liebster sich verspätete.
    »Ich lese dir vor.« Sie strich kurz über den Kopf des Jungen. »Zieh rasch den Dschama an, komm ins Wohnzimmer, und ich les’ dir vor, bis du ins Bett musst. Ich les’ dir vor aus dem ›Zauberstift‹.« Das war seine Lieblingsgeschichte. Im Nu war er ausgezogen.
    So kehrte in die Hütte langsam der normale Ablauf ein. Vorlesen, Nähen, Basteln. Dicey las leise ihrem kleinen Vetter vor, der an der verglimmenden Glut einnickte. Über dem Kamin hing ein uraltes Ölgemälde von Seeleuten und Netzen. Auf dem Kamin lag ein altes Familienschwert aus dem Krieg; daneben standen Tonfiguren, eine angeschlagene Vase voll getrockneter Blumen. Auf dem Tisch eine Schale mit Obst. Bunte, gehäkelte Kleinteppiche bedeckten den Boden. Großmutters Steppdecke lag auf einem Bett. Das erlöschende Feuer, grauer Rauch in der Esse verwirbelnd. Die Harmonie. Das -
    Wieder das furchtbare Heulen draußen, viel näher jetzt. Nicht wie ein Wolf. Wie ein Alptraum.
    Sie hoben wieder die Köpfe, alle sechs gleichzeitig, wie an einem einzigen Faden, einem der Furcht. Diesmal wandte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher