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Matrjoschka-Jagd

Matrjoschka-Jagd

Titel: Matrjoschka-Jagd
Autoren: Marijke Schnyder
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DIE TOTE MILLIONÄRIN
    Der Herbststurm peitschte den Regen an die Windschutzscheibe. Der Wischer arbeitete auf Hochtouren. Nore Brand spähte durch den nassgrauen Vorhang auf die Straße, die sich zwischen den Felsen hindurch ins Simmental zwängte. Zur Linken stand die Burgfluh wie ein Torwächter, düster und drohend. Im Hintergrund gab der Niesen Deckung.
    Das graue Alltagsgesicht dieser Gegend kannte sie nicht. Als Kind hatte ihr Vater sie zum Schlitteln und zum Skifahren mitgenommen. Die Bilder der Erinnerung zeigten nichts als leuchtende Schneelandschaften und tiefe, verschneite Hausdächer links und rechts von der Straße. Und eine unendliche Anzahl Kurven.
    Diese Kurven waren zu viel für den kindlichen Magen. Ihr Vater hielt an und versuchte mithilfe von Schnee, die Spuren von ihren und seinen Kleidern zu entfernen. Sie selbst, die Kleine, stand hilflos da und fühlte sich elend.
    »Bald sind wir oben«, tröstete er sie. »Wenn du einmal groß bist und selbst am Steuer sitzt, passiert das nicht mehr. Du wirst schon sehen.«
    Genauso war es auch geschehen.
    Als Kind hatte sie ihren Vater für einen Propheten gehalten, weil er immer zum Voraus wusste, was geschah, und ihre Kindheit endete genau an dem Tag, als er die Familie verließ.
    Noch eine lange Kurve zwischen Bäumen und hoch aufragenden Felsen und dann musste ›Der Tannenhof‹ auftauchen.
    Sie hatte Hunger. Sie musste essen. Jetzt brachte auch die größte Eile nichts mehr. Der Dorfpolizist habe nicht den geringsten Verdacht gehabt. Man war davon ausgegangen, dass die Frau ertrunken sei. Ein dummer Unfall, nichts weiter. Das hatte der Chef ihr mitgeteilt.
    »Du musst diesen Fall übernehmen, Nore«, hatte er gesagt, und dabei kaum vom Bildschirm aufgesehen, »Bärfuss leidet seit ein paar Tagen an einer schweren Erkältung.«
    Ihr Chef war kein Polizist. Eher ein heimlicher Archivar. Er ordnete mit Hingabe alte und uralte Akten. Er sicherte, was das Zeug hielt, und bevor er den Computer herunterfuhr, kontrollierte er alle gesicherten Dokumente. In keinem Büro brannte das Licht länger als bei ihm. Zweifellos wurde er nachts von grauenvollen Alpträumen heimgesucht, in denen sämtliche Computerkabel von gummisüchtigen Stadtmardern gefressen wurden, was zu einer finalen Explosion führte, die das ganze Gebäude, das ganze Stadtzentrum und damit sämtliche Daten vernichtete.
    Wer konnte so noch ruhig schlafen?
    Aus dieser Perspektive betrachtet, war Sisyphus nicht einmal so übel dran gewesen.
    Auch Bastian Bärfuss war kein Polizist. Er putzte seine Pfeife und pflegte Pflanzen in seinem Büro und achtete darauf, dass die antike Zuckerdose aus Silber, die seinen Schreibtisch zierte, frei von Staub blieb. Wo waren sie geblieben, die richtigen Polizisten? War es ein Jugendtraum, die Welt zu ordnen, für das Recht einzustehen? Vergaß man diese Träume, sobald man begriff, dass alles viel komplizierter war, als man es sich je hätte vorstellen können? Erwachte man eines Morgens und wusste nicht mehr, was richtig und falsch war? Begann man an genau jenem Morgen, die Büropflanzen zu hegen und zu pflegen, oder endlos Archive zu sichten und Ordner zu ordnen? Und heimlich alle Alpträume im Tagebuch zu notieren?
    »Eleonora, was willst du bei der Polizei? Die Welt ist so, wie sie ist, und auch du wirst sie nicht ändern können«, hörte sie ihre Mutter rufen. Nore Brand sah ihre Mutter in der Küche herumwirbeln, mit fliegenden Haaren, geröteten Wangen und Knoblauch unter den Fingernägeln. La Mamma.
    Sie parkte den Wagen und starrte eine Weile in den dunklen Tannenwald, der sich hinter dem Gasthof steil den Berg hinaufzog.
    Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte sie angefangen, vor vielen Jahren. Damals, als die Polizei sich um Statistiken bemühen musste; die Menschheit rief plötzlich nach Fakten und Zahlen. Nore Brand hatte genug von der Arbeit im Röntgeninstitut und meldete sich bei der Polizei. Die Arbeit in der Abteilung Statistiken langweilte und empörte sie. Sie hatte nicht gewusst, dass der größte Teil aller Verbrechen ungeklärt blieb. Sie bekam dann die Gelegenheit, gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt etwas zu unternehmen, weil der Prophet mit Bastian Bärfuss zusammen die Schulbank gedrückt hatte.
    Vielleicht war es wirklich so, dass man eines Morgens aufwachte und nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, was richtig und was falsch war. Sie hatte sich geschworen, an genau diesem Tag den Dienst zu quittieren, auf dem Nachhauseweg
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