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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Vorwort

    Als ich eines Nachmittags am Tisch saß und in einer Zeitschrift blätterte, blieb mein Blick beim Überfliegen der Artikel zufällig an den Leserbriefen hängen. Ohne besonderen Grund, mehr zum Zeitvertreib begann ich zu lesen. Sonst schaue ich mir selten Frauenzeitschriften an, und die Leserbriefe interessieren mich meist gar nicht.
    Einer der Briefe stammte von einer Dame, deren Mann infolge des Sarin-Anschlags in Tokyo arbeitslos geworden war. 1 Er war Pendler und hatte das Pech gehabt, auf dem Weg zur Arbeit Opfer des Anschlags zu werden. Bewusstlos wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und mehrere Tage dort behandelt. Unglücklicherweise blieben Beschwerden zurück, und er konnte den Anforderungen, die sein Beruf an ihn stellte, nicht mehr genügen. Anfangs zeigte man in seiner Firma noch Verständnis, doch mit der Zeit begannen seine Kollegen und Vorgesetzten gehässige Bemerkungen zu machen. Außerstande, die feindselige Atmosphäre zu ertragen, sah der Mann keinen anderen Ausweg, als zu kündigen.
    Da ich jene Zeitschrift leider nicht mehr besitze, kann ich den Brief nicht wörtlich zitieren, aber ich habe den Inhalt noch ungefähr im Kopf.
    Soweit ich mich erinnere, war der Brief frei von Larmoyanz. Er war auch keine wütende Anklage. Sein Tenor glich eher einem verhaltenen Murren. »Wie konnte so etwas überhaupt passieren …?« schien die Frau sich zu fragen, kopfschüttelnd und noch immer fassungslos angesichts des Unglücks, das so aus heiterem Himmel über ihre Familie hereingebrochen war.
    Der Brief rüttelte mich auf. Ja wirklich, wie hatte so etwas nur geschehen können? Das Ehepaar litt unter einer tiefen seelischen Kränkung, und ich empfand starkes Mitgefühl für diese Menschen, obwohl mir natürlich klar war, dass mein Mitgefühl ihnen gar nichts nützte.
    Andererseits – was hätte ich für sie tun können? Also seufzte ich nur und blätterte weiter, so wie es vermutlich die meisten taten, und wandte mich wieder meinem eigenen Leben und meiner Arbeit zu.
    Einige Zeit später fiel mir der Brief wieder ein. Das »Warum?« ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es blieb dort stehen wie ein großes Fragezeichen.
    Nicht genug damit, dass der Mann unmittelbar Opfer des Sarin-Anschlags geworden war, er hatte auch noch unter sekundären Folgen in Form einer nachhaltigen gesellschaftlichen Diskriminierung zu leiden. Warum hatte man das nicht verhindern können? Immer häufiger dachte ich über diese Frage nach.
    Mit Sicherheit konnte sich dieser bedauernswerte junge Angestellte keinen Reim darauf machen, warum man ihn quasi zum zweiten Mal attackierte und ihn als »den Typen von dem komischen Anschlag« bezeichnete. Vielleicht war ihm die Perspektive, die ihn von den anderen ausgrenzte – die Einteilung in »wir« und »der da« – nicht einmal bewusst. Wahrscheinlich hielt er sich allen äußeren Anzeichen zum Trotz noch immer für einen von »uns«.
    Kurzum, ich wollte mehr über die Frau erfahren, die den Leserbrief geschrieben hatte. Und über ihren Mann. Persönlich. Ich wollte tiefer in die Motive und Strukturen der Gesellschaft eindringen, die diese doppelte Gewaltanwendung zuließ.
    Nicht lange danach entschied ich mich, möglichst viele Opfer des Sarin-Anschlags zu befragen.

    Die Interviews wurden über den Zeitraum eines Jahres von Anfang Januar bis Ende Dezember 1996 durchgeführt. Die von mir aufgenommenen Gespräche dauerten im Durchschnitt eineinhalb bis zwei Stunden. Mitunter kam es auch vor, dass ich mich bis zu vier Stunden mit einer Person unterhielt.
    Anschließend wurden die Bänder komplett transkribiert. Selbstverständlich entstand auf diese Weise eine riesige Menge von Text. Wie bei einer normalen Unterhaltung üblich, drehten sich große Teile der Gespräche um Alltägliches. Daher haben wir redigiert, umgestellt und neu formuliert, soweit es nötig war, um die Lektüre zu erleichtern und ein Manuskript von normalem Buchumfang zu erstellen. Sooft ich beim Lesen der Transkription eine Auslassung entdeckte, habe ich mir das Band noch einmal angehört und fehlende Stellen ergänzt.
    Nur eine einzige Person verweigerte den Mitschnitt unseres Gesprächs. Obwohl ich am Telefon darauf hingewiesen hatte, dass unsere Unterhaltung aufgezeichnet würde, behauptete die betreffende Person, als ich mein Tonbandgerät auspackte, sie sei darüber nicht unterrichtet worden. Daher verbrachte ich zwei Stunden damit, Namen und Zahlen mitzuschreiben, während ich das Gesagte verfolgte.
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