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Matrjoschka-Jagd

Matrjoschka-Jagd

Titel: Matrjoschka-Jagd
Autoren: Marijke Schnyder
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im Farbwarengeschäft haltzumachen und mit den neuen Errungenschaften den grauen Wänden ihrer Wohnung den Garaus zu machen. Auf diesen Tag war sie vorbereitet. Auf ihrem Nachttischchen lag unter einem Stapel Comics ein Buch über harmonische Farben für das schöne Zuhause. Den letzten beruflichen Tiefschlag hatte sie mit Himbeerrot verarbeitet. Diese Farbe stand dem alten Briefkasten ausgezeichnet. Doch nun stand der nächste Fall an und die Tage als Innendekorateurin schienen ihr fern.
    Dem Tonfall ihres Chefs hatte sie entnommen, dass diesem Todesfall nicht viel Bedeutung beigemessen wurde. Dorfgerede. Eine Frau, immerhin Millionärin, Kurgast seit vielen Jahren, war offenbar ertrunken, weit über 80, in idyllischer Umgebung, im Lenkersee. Das traurige Ende einer Frau, die sich frühmorgens aufgemacht hatte, um in der frischen Luft gesund zu werden. Es war früh gewesen, zu früh vielleicht für sie, ein leichter Schwindelanfall und schon war es geschehen. Die Erben hatten den geringsten Grund, sich über dieses abrupte Ende zu beklagen.
    Doch irgendjemand wusste plötzlich mehr. Wie oft hatte sie das erlebt. Also musste man der Sache nachgehen, jedenfalls war der Dorfpolizist plötzlich dieser Ansicht, denn alles müsse seine Ordnung haben. Die späte Einsicht ihres Kollegen war sonderbar, sie war eigentlich das Sonderbarste an diesem Fall.
    Der Regen hatte etwas nachgelassen.
    Nore Brand dachte an Nino Zoppa.
    Er würde die Fahrt im alten Rüttelzug verwünschen. Und im besten Fall nie mehr unpünktlich sein.
    Als sie aus dem Wagen kletterte, blies ihr ein kalter Wind entgegen. Sie zog die Daunenjacke enger um die Schultern und lief über den leeren Parkplatz, um einen Blick in den tosenden Bergbach zu werfen. Eisiger Wasserstaub prickelte auf ihrem Gesicht.
    ›Frische Forellen und gutbürgerliche Küche‹, verkündeten schwungvolle Kreidebuchstaben auf einer verwitterten schwarzen Tafel vor der Treppe, die zum Eingang des Gasthofs führte.
    In der dunklen Gaststube war es warm. Ein Geruch von Fisch, Bier, Rösti und Kaffee umfing sie.
    Eine halbe Stunde später verließ sie den Gasthof und steuerte den Wagen weiter das Tal hinauf. Die gewaltige Portion Tannenhof-Rösti mit Schinken, Ei und Käse überbacken lag schwer wie ein Felsbrocken in ihrem Magen. Immerhin hatte es inzwischen zu regnen aufgehört und ein heftiger Bergwind schob die Regenwolken über die Berge ins Wallis hinunter.
    Die Vorfahren ihrer Mutter, die Familie Fonte von Brescia, waren über diese Berge gekommen. Die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben hatte sie über unwegsame Pässe nach Norden getrieben und unempfindlich gemacht gegen die Kälte, mit der sie von Land und Leuten empfangen wurden. Ihre Mutter hatte sie unablässig daran erinnert. Doch das war längst vorbei; Nore war eine der ihren geworden. Nur diese Sehnsucht nach einer besseren Welt, um die man unablässig kämpfen musste, hatte sie ihrer Tochter hinterlassen.
    In der Ferne sah sie die weißen Spitzen der Berge, die das Tal abschlossen, die schroffen Felsgrate, Wasserfälle, die wie silbrig glänzende Fäden an den grauen Felsmassen hingen, tiefer dann die Baumgrenze und noch tiefer die Weiden mit den Hütten und Bauernhöfen. Ganz hinten in der Talmulde erkannte sie die ersten Häuser und die zwei Kirchtürme des Dorfes. Etwas abseits vermutete sie das Grandhotel Belvedere. Und nicht weit davon entfernt, von hohem Schilf umgeben, der Lenkersee und dahinter der Wildstrubel.
    »Wildstrubel heißt der größte Berg dort hinten. Siehst du ihn?«
    »Mhm«, sagte die Kleine.
    Der Name gefiel ihr. Sie dachte an den Struwwelpeter.
    Die Kleine sah so viele Berge, so viele Felsen. Aber wo hörte ein Berg auf und wo begann der nächste?
    Von da an stellte der Prophet jedes Mal, wenn sie ins Simmental fuhren, die gleiche Frage. »Weißt du, wie der riesige Berg dort hinten heißt?«
    »Wildstrubel«, sagte sie dann und wusste, dass der Prophet zufrieden war mit ihr.
    Was hatte dieser Berg wohl angestellt, dass er so hieß?
    »Früher lag das ganze Tal unter einem großen Gletscher«, hörte sie seine Stimme.
    »Wie viel früher?«
    Der Prophet machte unerträglich lange Denkpausen. »Stell dir vor, wie lange es geht, bis dein Schneemann geschmolzen ist und der ist nur aus Schnee. Nicht aus Eis. Wenn Mama den Eisschrank auftaut, um ihn zu putzen, muss sie ihn über Nacht offen stehen lassen, damit das Eis am Morgen Wasser geworden ist. Als der Gletscher das Tal ausfüllte,
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