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Matrjoschka-Jagd

Matrjoschka-Jagd

Titel: Matrjoschka-Jagd
Autoren: Marijke Schnyder
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brauchte es viele, viele Jahre, bis er geschmolzen war.«
    Die Kleine runzelte die Stirn. »So lange?«
    »Ja, so lange«, wiederholte der Prophet.
    Die Kleine reckte den Hals, um bis zu den Bergspitzen zu sehen. So viel Eis und das war nun weg.
    »Inzwischen ist das halbe Tal im Ozean, auch die Berge werden mit der Zeit dort enden.«
    Die Kleine schaute den Wolken nach. Die Lehrerin hatte eine bunte Zeichnung an die Wandtafel gemalt, um zu zeigen, wie das Wasser verdunstete und zu Wolken wurde. Dann hatte sich die ganze Klasse um den Wasserkocher gestellt und zugeschaut, wie das kochende Wasser dampfend aus dem Gefäß stieg. Die Lehrerin war jung, schön und sie duftete nach Parfum und die Kleine glaubte ihr alles. Sogar die Geschichte vom See, der sich in eine federleichte Sommerwolke verwandeln konnte.
    Nore Brand sah ihren Vater vor sich sitzen mit seinem schmalen Nacken und den dünnen Haaren oben auf dem Kopf. Aber er hatte einen dichten Bart, so wie der Prophet in ihrer Kinderbibel.
    »Deine Mutter hat mich nie wirklich gebraucht, Eleonora.«
    In ernsthafteren Situationen hieß sie Eleonora. Für den Alltag genügte Nora. Für alle anderen war sie einfach Nore. Ihre Mutter hatte bei der Geburt ihrer ersten Tochter an eine Großtante aus Sizilien gedacht und an eine hoch verehrte italienische Schauspielerin.
    Eleonora. Das klang nach Federboa, verwegener Augenschminke, dramatischen Gesten und einem Schuss Hysterie. Nein, Nore genügte ihr. Dieser Name bot immerhin Entfaltungsmöglichkeiten.
    Jacques nannte sie Eléonore. Mit so etwas hatte sie nie gerechnet. Sie war völlig arglos an die Klassenzusammenkunft gegangen. Vielleicht war es ein Naturgesetz, dass man mit vierzig und ein kleines bisschen mehr plötzlich wissen wollte, wie es um die anderen stand. Auch Jacques war dabei gewesen. Wie sie zum ersten Mal. Er hatte ihr verschmitzt zugelächelt, genau so wie damals, als sie ihn dabei ertappte, wie er hastig ihren Pultdeckel schloss. Die Winnetou-Postkarten waren also alle von ihm gewesen. Winnetou und seine Silberbüchse, Old Shatterhand und Tante Droll. Ein paar Tage später erhielt Jacques in der Schulbibliothek hinter einem Regal einen Kuss dafür. Das war der erste Kuss ihres Lebens gewesen. Und nun, so viele Jahrzehnte später, hatte der große Jacques von der großen Eléonore wissen wollen, ob dieser Kuss dem edlen Indianer oder dem kleinen Jacques gegolten hätte. Nore konnte nicht begreifen, dass die Antwort auf diese Frage sie in Verlegenheit brachte. Sie merkte, wie sie rot anlief, worauf sich Jacques nach all diesen Jahren den Kuss holte, der ihm längst zustand. Seiner Ansicht nach.
    Kurz bevor sie das Dorf erreichte, riss der Wind den Himmel auf, er leuchtete blau und die Sonne schien auf die grünen Berghänge.
    Der Bahnhof war menschenleer. Als sie die Tür zum Warteraum öffnete, sah sie ihn. Er saß in sich zusammengesunken auf einer Bank und schlief. Friedlich wie ein Engel. Seine langen dünnen Beine ragten weit in den Raum hinein. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner weiten Steppjacke gebohrt. Eine tiefe Steilfalte teilte die dunklen Augenbrauen. In seinen Ohren steckten schwarze Stöpsel.
    »Dein Zauberlehrling«, hatte Bärfuss gespottet.
    Diese Jugend kam mit technischen Geräten verkabelt auf die Welt.
    Seit drei Tagen war er kahl geschoren. Er sah aus wie ein gehäutetes Robbenbaby. Sie stand einen Augenblick vor ihm. Nein, er würde kaum von selbst erwachen. Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Vergeblich. Sie packte das Gerät, das locker in seiner Hand lag, und stellte die volle Lautstärke ein. Da zuckte er wie elektrisiert hoch und riss die Stöpsel aus den Ohren.
    »Scheiße. Wer?« Er stand in seiner ganzen Länge vor ihr und schaute fassungslos auf sie herab. »Frau Brand?« Er rieb sich die sausenden Ohren.
    Nore Brand drehte sich wortlos um und ging auf den Ausgang zu.
    Er folgte ihr, er warf sich auf den Nebensitz und riss die Autotür wütend zu. »Ich war heute Morgen nur fünf Minuten zu spät.«
    »Nur fünf Minuten? Wie hätte ich das wissen sollen?«
    »Bei mir sind es immer höchstens fünf Minuten. Nur ganz selten einmal länger.«
    Nore Brand startete den Wagen. »Gewöhnen Sie sich einfach dran, fünf Minuten eher zu kommen. Das lässt sich bestimmt irgendwie einrichten«, sagte sie und fuhr los.
    Er starrte aus dem Fenster. »Sie sind wirklich knallhart«, sagte er nach einer Weile.
    »Ja.«
    »Sie werden mit mir noch andere Probleme
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