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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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    Als Kind erzählten mir meine Eltern und Lehrer von einem Mann, der sehr stark war. Sie erzählten mir, er könne die ganze Welt vernichten. Sie erzählten mir, er könne Berge anheben. Sie erzählten mir, er könne das Meer teilen. Es sei wichtig, den Mann bei Laune zu halten. Wenn wir befolgten, was der Mann befohlen habe, möge uns der Mann. Er möge uns so sehr, dass er jeden töte, der uns nicht möge. Befolgten wir aber nicht, was er befohlen habe, möge er uns nicht. Dann hasse er uns. An manchen Tagen hasse er uns so sehr, dass er uns töte; an anderen Tagen lasse er andere uns töten. Diese Tage nennen wir »Feiertage«. An Purim erinnerten wir uns, wie die Perser versuchten, uns zu töten. An Pessach erinnerten wir uns, wie die Ägypter versuchten, uns zu töten. An Chanukka erinnerten wir uns, wie die Griechen versuchten, uns zu töten.
    – Gesegnet sei Er, beteten wir.
    So schlimm diese Strafen auch sein mochten, waren sie doch nichts im Vergleich zu denen, die uns von dem Mann selbst zugemessen wurden. Es gab Hungersnöte. Es gab Sintfluten. Es gab wütende Rache. Hitler mochte die Juden ermordet haben, dieser Mann aber überschwemmte die Welt. Folgendes Lied sangen wir über ihn im Kindergarten:
     
    God is here
    God is there
    God is truly
    everywhere!
     
    Danach ein Imbiss und unruhiger Schlaf.
    Ich wuchs auf wie ein Kalb in der jüdisch-orthodoxen Stadt Monsey im Staat New York, wo es verboten war, Kalb zusammen mit Milchprodukten zu essen. Hatte man Kalb gegessen, war es sechs Stunden lang verboten, Milchprodukte zu essen; hatte man Milchprodukte gegessen, war es drei Stunden lang verboten, Kalb zu essen. Schwein war auf immer verboten, jedenfalls so lange, bis der Messias da war; dann, so lehrte uns Rabbi Napier in der vierten Klasse, würden die Gottlosen bestraft und die Toten wiederauferstehen, und Schweine würden koscher.
    – Yay!, sagte ich und klatschte mich mit Dov, meinem besten Freund, ab.
    – So wie jetzt, sagte Rabbi Napier und spähte angewidert über seine dicke Hornbrille, – solltet ihr euch freuen am Tag des Jüngsten Gerichts.
    Die Leute von Monsey hatten fürchterliche Angst vor Gott, und sie brachten auch mir bei, fürchterliche Angst vor Ihm zu haben – sie erzählten mir von einer Frau namens Sara, die kicherte, also machte Er sie unfruchtbar; von einem Mann namens Hiob, der war traurig und fragte: – Warum?, also kam Gott auf die Erde, packte Hiob am Kragen und donnerte: – Was glaubst du wohl, wer du bist, du Arschloch?; von einem Mann namens Mose, der aus Ägypten floh und vierzig Jahre lang auf der Suche nach einem Gelobten Land durch die Wüste zog und den Gott tötete, kurz bevor er es erreichte – voll auf die Fresse auf der Ein-Yard-Linie –, weil Mose gesündigt hatte, einmal, vierzig Jahre zuvor. Sein Verbrechen? Einen Stein schlagen. Und so versammelten sich die Leute von Monsey im Frühherbst, wenn das Laub erstickte, die Farbe wechselte und tot herabfiel, in den Synagogen der Stadt und fragten sich laut und unisono, wie Gott sie wohl töten werde: – Wer leben wird und wer sterben , beteten sie, – wer an sein Ende gelangt und wer nicht an sein Ende gelangt. Wer in Wasserflut, wer in Flammenglut, wer vom Schwert zerrissen, wer vom Tier zerbissen. Wer in Hungersnot, wer vom Durst bedroht, wer in des Bebens Rot, wer im Seuchentod, wer erwürgt und wer zerschmettert.
    Dann Mittagessen und unruhiger Schlaf.
     
    Es ist Montagmorgen, sechs Wochen nachdem meine Frau und ich erfuhren, dass sie zum ersten Mal schwanger sei, und ich stehe vor einer Ampel. Das Kind hat keine Chance. Es ist ein Streich. Ich kenne diesen Gott; ich weiß, wie er tickt. Das Baby wird eine Fehlgeburt, oder es wird bei der Geburt sterben, oder meine Frau wird bei der Geburt sterben, oder beide werden nicht sterben, und ich werde denken, wir haben’s geschafft, und dann auf der Heimfahrt vom Krankenhaus stoßen wir frontal mit einem betrunkenen Fahrer zusammen, und beide, meine Frau und das Kind, werden später in der Notaufnahme sterben, nur ein paar Türen weiter von dem Zimmer, in dem wir nur Minuten zuvor so glücklich und lebendig und voller Zuversicht gestanden hatten.
    Das wäre ja so typisch Gott.
    Die Lehrer meiner Jugend sind gestorben, die Eltern alt und weitgehend fremd geworden. Der Mann aber, von dem sie mir erzählten – den gibt’s noch immer. Ich kann ihn nicht erschüttern. Ich habe Spinoza gelesen. Ich habe Nietzsche gelesen. Ich habe National Lampoon
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