Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
Prolog
    Pfeifend strich der Wind durch die Straßen der Stadt und kratzte an den Fassaden der Häuser. Er trug den Geruch von Rauch und Flussschlamm mit sich, der einem in der Nase kleben blieb, bis man an nichts anderes mehr dachte als an die milchig trüben Fluten. Es war kalt, eisig, als habe niemals ein Sonnenstrahl das Dickicht der Häuserschluchten durchdrungen. Und in der Tat: Seit Anbeginn der Zeiten lag Eisenheim in ewiger Nacht. Eisenheim, die Stadt, die weder das Tageslicht noch die Sonne kannte. Für immer lastete die Finsternis auf ihren Dächern, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckten. Nur dann und wann glomm das Licht einer Gaslaterne in der Dunkelheit auf. Überall am Himmel sammelte sich der Qualm, der aus den unzähligen Schornsteinen des Stadtteils Schlotbaron emporstieg, zu einer brodelnden Gewitterwolke.
    Undurchdringlich erfüllte die Schwärze auch die schmale Gasse im Herzen von Krummsen, dem westlichsten Viertel Eisenheims. Wie Geisterfinger krochen hier die Nebelfetzen vom Fluss herauf und über das Kopfsteinpflaster hinweg, um nach den Kellerfenstern zu greifen, genauso wie nach den Füßen des alten Mannes. Es waren die Füße eines Mannes, an dem man vorbeiging, ohne ihn in Erinnerung zu behalten.
    Er trug einen grauen Mantel, schlicht und weit, etwas altmodisch vielleicht. Und zerknittert, als wäre er darin gerannt. Die Kapuze hatte er sich so tief ins Gesicht gezogen, dass es im Schatten lag. Nur sein Bart, der bis auf seine Brust hinabreichte, quoll darunter hervor. Blutspritzer klebten in den silbrigen Haaren, das gleiche Blut, das auch in Rinnsalen über seine Hände lief.
    »Amadé«, flüsterte er. »Was haben sie dir angetan?«
    Das Mädchen in seinen Armen schlug langsam die Augen auf und sah ihn an. Die Verletzungen waren schwer, das hatte er gleich erkannt. Der Mann konnte es kaum ertragen, in das von Wunden und Blutergüssen bedeckte Gesicht zu sehen. Doch nun, da er ihrem Blick begegnete, traten ihm die Tränen in die Augen. »Mein armes Kind. Das habe ich nicht gewollt. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen, niemals hätte –«
    »Er«, begann das Mädchen. Es war kaum mehr als ein Hauchen. Ihre Hand krallte sich in den Stoff des Mantels.
    Der alte Mann schluckte. »Ist ja gut«, sagte er und strich ihr über das Haar, das bis auf das Kopfsteinpflaster hinabreichte, verklebt von Dreck und Blut. »Jetzt ist es vorbei. Ich bringe dich nach Hause, da bist du in Sicherheit.«
    Er wusste nicht, ob sie ihn verstanden hatte, denn seine Worte schienen sie nicht zu beruhigen. Noch immer sah sie ihn an und noch immer versuchten ihre rissigen Lippen, Silben zu formen.
    »Er«, wisperte sie wieder und es klang, als käme ihre Stimme von weit her, ein Zischen in der Dunkelheit. »Er … weiß … es!«
    Der Mann erstarrte, biss sich auf die Zunge. »Was?«, entfuhr es ihm eine Spur zu scharf. »Was hast du ihm erzählt?«
    Das Mädchen antwortete nicht, sondern drohte erneut das Bewusstsein zu verlieren. Der Griff seiner Hand lockerte sich, während die Finsternis der Gasse sich weiter zu verdichten schien, sodass nun auch die geschulten Augen des Mannes kaum noch etwas erkennen konnten. Er schüttelte den schmächtigen Körper in seinen Armen. »Amadé! Was hast du ihm erzählt? Sag es mir. Du musst es mir sagen, hörst du?«
    Ein Stöhnen, Augenlider, die sich zitternd schlossen.
    »Bitte, Amadé!« Der Mann packte das Mädchen fester, so fest, dass es vor Schmerz aufschrie, sich aufbäumte und versuchte, mit letzter Kraft nach ihm zu schlagen. »Sag es«, rief er. Er musste es wissen. Sofort.
    Da endlich reagierte das Mädchen und begann zu schluchzen. »Flora«, murmelte es. »Ich … habe sie verraten.«

1
TRAUMSCHATTEN
    »Flora? Also wirklich! Schläfst du etwa?« Ich schreckte auf. »Was? Äh, nein, gar nicht.« Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an, als wäre er mit Helium gefüllt wie ein Ballon. Doch noch begriff ich nicht, was gerade mit mir geschehen war. Ein wenig verspätet bemerkte ich, wo ich mich befand, musste dann aber noch ein paarmal blinzeln, bis mir auffiel, dass die ganze Klasse mich anstarrte.
    »Das sah aber anders aus«, sagte unser Deutschlehrer Herr Bachmann, der sich direkt vor meinem Pult in der dritten Reihe aufgebaut hatte und mich über seinen Schnurrbart hinweg anfunkelte. Es war die siebte Stunde und Herr Bachmann hatte das Licht ausgeschaltet und die Vorhänge zugezogen, um uns zum dritten Mal in dieser Woche mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher