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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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unmittelbar vor dem Drogeriemarkt. Jedenfalls glaubte ich, dass er stand, er hatte schließlich keine richtige Form, sondern war eher so etwas wie ein blinder Fleck. Ein schwarzes Loch von der Größe eines Basketballspielers, das aus dem gekachelten Fußboden wuchs und scheinbar von niemandem außer mir bemerkt wurde. Mir wurde flau in der Magengegend. Beobachtete ich das alles wirklich? Gerade lief ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer schnurstracks durch den Schatten hindurch.
    »Da! Hast du das gesehen?« Ich hielt Wiebke, die sich vor mir durch eine japanische Reisegruppe schlängelte, an ihrem Rucksack fest, damit sie stehen blieb. »Da vorne ist er wieder.«
    Wiebke folgte meinem Blick. Sie sah den Schattenfleck jetzt direkt an und es kam mir so vor, als starrte dieser zurück. Plötzlich hatte er etwas Lauerndes an sich, wie ein Wolf, der eine Fährte aufnahm.
    Wiebke jedoch schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß echt nicht, was du da siehst«, sagte sie. »Vielleicht ist irgendwas mit deinen Augen nicht in Ordnung. Wir haben doch letztens diesen Film gesehen, in dem sich bei einem Jungen die Netzhaut ablöst und er dann die ganze Zeit Blitze sieht, wo keine sind.«
    »Ich sehe aber keine Blitze, sondern einen Schatten. Also so ziemlich das Gegenteil«, sagte ich gereizt und setzte mich wieder in Bewegung. »Los, komm. Gehen wir zum Training.«
    Dreimal pro Woche fuhren Wiebke und ich nach der Schule zum Ballettunterricht in der Innenstadt. Nicht dass ich viel für Tüllkleidchen und Kitsch übriggehabt hätte, aber ich liebte das Gefühl, meinen Körper bis in den kleinsten Muskel hinein zu kontrollieren. Und man war danach so herrlich müde, ein Umstand, auf den ich heute allerdings gerne verzichtet hätte. Viel müder konnte ich kaum noch werden. Keine gute Ausgangslage für ein Spitzentanztraining.
    Tatsächlich war meine Leistung heute ein einziges Desaster. Schon bei den Übungen an der Stange war ich unkonzentriert, hielt dauernd Ausschau nach dem Schatten, als erwartete ich, er würde plötzlich durch eine der Spiegelwände des Tanzsaales hereinschweben. Beim Zählen der Plies kam ich immer wieder durcheinander, verpatzte anschließend mehrere Sprungkombinationen und zog damit langsam, aber sicher den Zorn unserer Ballettlehrerin Isabelle auf mich. Andauernd musste sie meine Armhaltung korrigieren.
    »Das sieht aus wie die Flügel eines toten Vogels, Flora. Achte auf deine Ellenbogen.«
    »Mach ich doch.«
    »Machst du nicht. Und denk an deine Handgelenke.«
    »Jaa.«
    »Die Ellenbogen!«
    Nach der Hälfte der Stunde war ich zu frustriert, um weiterzumachen, entschuldigte mich mit einem genuschelten »Mir ist schlecht!« und rannte in die Umkleide. Natürlich war ich es gewohnt, Fehler zu machen. Und mit meiner gedrungenen Statur (»Ein Zwerg mit Stupsnase«, wie Lavinia es gern ausdrückte) würde ich vermutlich niemals für Schwanensee engagiert werden. Aber was zu viel war, war zu viel.
    Mittlerweile konnte ich vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten. Hastig zog ich mich um, machte mir nicht einmal die Mühe, die Klammern zu entfernen, mit denen ich mir beim Training mein braunes Haar aus dem Gesicht hielt, und lief auf die Straße hinaus.
    Ohne auf irgendwelche dubiosen Schatten zu achten und ohne noch einen einzigen Gedanken an meinen Traum zu verschwenden, bahnte ich mir meinen Weg in Richtung Bushaltestelle. Wahrscheinlich war ich gerade dabei, verrückt zu werden. Nicht dass ich Erfahrung damit gehabt hätte. Aber so was hörte man schließlich nicht gerade selten: Leute, die plötzlich Wahnvorstellungen entwickelten und Dinge sahen, die gar nicht da waren. Vielleicht war Wiebkes Theorie von meinen falsch verbundenen Synapsen gar nicht so unwahrscheinlich. Schatten zu sehen! Du meine Güte, vermutlich war ich schwer hirnkrank!
    »Flora! Was ist mit dir?«, rief Wiebke, die mich auf Höhe der Stadtbibliothek einholte. Auch sie hatte sich nur halb umgezogen, der roséfarbene Träger ihres Trikots lugte aus ihrer Jacke hervor. Außer Atem berichtete ich ihr von meiner Selbstdiagnose, welche sie mit einem energischen »So ein Blödsinn!« abtat. »Na und? Dann siehst du halt mal schwarze Flecken. Das kann auch vom Kreislauf kommen. Was du brauchst, ist jedenfalls keine Gummizelle, sondern ein Kaffee«, erklärte sie und schleppte mich schon in Richtung Starbucks.
    »Nein«, protestierte ich. »Du verstehst das nicht. Es sind nicht einfach nur Flecken. Es sind … Wesen, klar? Sie leben.«
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