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0928 - Der Fliegenmann

0928 - Der Fliegenmann

Titel: 0928 - Der Fliegenmann
Autoren: Jason Dark
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Ein kühler Windstoß traf ihr Gesicht und drang auch unter das dunkle Tuch, das den größten Teil ihres Kopfes bedeckte. Die alte Frau zwinkerte, sie wunderte sich zudem darüber, daß der Wind so kühl gewesen war. Als wehte er aus einem der alten Gräber, über die längst Gras gewachsen war, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
    Sie passierte die zum Teil eingefallene Steinmauer und ging dort entlang, wo es früher einmal Wege gegeben hatte. Die waren jetzt zugewachsen und kaum mehr als solche zu erkennen.
    Das Grab ihres Sohnes lag auf der rechten Seite, in einem Winkel an der Mauer. Und es war leicht zu finden, denn eine Trauerweide ließ ihre dünnen Zweige über dem Grab baumeln, als wollten sie dem Toten noch die Hände reichen.
    Ihr Gefühl war geblieben. Die Kälte auf dem Rücken auch. Sie fror in ihrem grauen Kleid. Ihre Lippen bewegten sich zitternd, aber sie sprach kein Wort.
    Irgendwo flatterten Vögel hoch. So schnell und heftig, als wollten sie vor etwas fliehen.
    Vor den Toten?
    Nein, die rührten sich nicht. Zwar erzählte man sich, daß es Tote gab, die ihre Gräber verließen, um zurückzukehren, aber das war sicherlich Unsinn.
    Jovanka schaute zurück. Es war ihr niemand gefolgt, und so ging sie weiter. Sie fühlte sich allein, denn auch die Häuser waren jenseits der Mauer verschwunden, so daß sich die Frau verlassen vorkam.
    Sie bewegte sich nach rechts. An ihrem rechten Arm hing die alte Stofftasche, in der sich die kleine Handharke und auch die Schaufel befanden. Zwar hatte sie erst gestern das Grab vom Unkraut befreit, aber in dieser Jahreszeit wuchs das Zeug rasch. Außerdem sollte das Grab ihres Sohnes das schönste auf dem ganzen Friedhof sein.
    Ein merkwürdiger Geruch stieg ihr in die Nase, oder irrte sie sich?
    Manchmal kam es vor, daß Jugendliche den Friedhof besuchten und Feuer machten. Sie brieten dann die gestohlenen Ferkel oder Hasen, wenn sie ihre Feste feierten und dabei kräftig tranken.
    Aber das war es nicht.
    Ein Summen ertönte, und Jovanka machte sich ihre Gedanken, denn auf dem Weg zum Grab ihres Sohnes wurde es lauter. Jovanka sah schon die Trauerweide, das Grab selbst jedoch noch nicht.
    Das Summen blieb.
    Jovanka ging vorsichtig weiter, schaute sich immer wieder um, ohne jedoch die Quelle des Geräusches entdecken zu können. Da mußte sich ein Unsichtbarer in ihrer Nähe aufhalten, der das Geräusch abgab.
    Oder waren es Fliegen? Mücken vielleicht? Wespen, Bienen? Im Monat August waren die Insekten immer sehr aggressiv, besonders die Wespen, die spürten, daß der Herbst nicht mehr lange auf sich warten ließ. Da wollten sie noch einmal zeigen, wozu sie fähig waren. So sehr sie auch schaute, es bewegte sich nicht eine Wespe in ihrer Nähe, und Jovanka konnte sich nur wundern.
    Egal, sie wollte nicht mehr darauf achten. In zwei Jahren wurde sie achtzig, da sollte man aufgehört haben, sich zu wundern, da mußte man alles nehmen, wie es kam. Sie hatte so viel erlebt, die Nazis, die Kommunisten und jetzt die Befreiung, aber für sie persönlich hatte sich nicht viel geändert. Das Leben in dem kleinen Ort lief nach wie vor seinen geregelten Gang. Nur bekam man jetzt mehr von der Welt mit und mußte erleben, daß es überall auf dem Globus so viel Schreckliches gab. Da konnte sie schon froh sein, in der Gemeinschaft zu leben und schließlich auch zu sterben.
    Sterben – sie dachte oft daran. Auch in dieser Minute, als sie vor dem Grab ihres Sohnes stand und auf das weiße Holzkreuz schaute, das Jovanka selbst geschaffen hatte.
    Hin und wieder reinigte sie es, damit es seine helle Farbe nicht verlor. Sie hatte Blumen gepflanzt. Blaue Stiefmütterchen und gelbe Butterblumen.
    Ächzend ging Jovanka in die Knie. Die alten Knochen wollten nicht mehr so, sie taten ihr weh, aber Jovanka kniete immer beim Beten.
    Sie faltete die Hände. Ein kurzes Gebet, gewidmet ihrem toten Sohn, gehörte einfach dazu. Und wieder spürte sie, wie ihre Augen feucht wurden und sich ein gewisser Druck auf ihre Ohren legte. So war es immer. Es gab keinen Tag, an dem es anders gewesen wäre.
    Etwa fünf Minuten blieb sie knien, den Rücken durchgedrückt, die Hände weiterhin gefaltet. Ihre blassen Lippen bewegten sich kaum, als sie die Worte murmelte. Über die faltige Haut unter den Augen rannen die Tränen und hinterließen nasse Spuren.
    Sie sprach das Wort »Amen« voller Inbrunst aus, senkte den Kopf, auch eine Bewegung, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, dann drückte sie
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