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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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einer uralten, scheinbar in Echtzeit gedrehten Verfilmung der Buddenbrooks zu quälen. Alle paar Minuten stoppte er den Film, um uns Fragen zu stellen.
    So wie es aussah, hatte ich einen dieser Stopps verschlafen, was mich verwirrte, denn ich achtete stets darauf, was um mich herum geschah. Einfach im Unterricht einzuschlafen, sah mir nicht ähnlich. Allerdings hatte ich auch die halbe Nacht geholfen, ein entlaufenes Rudel Süßwasserkrabben zu jagen, das aus einem der Aquarien meines Vaters entkommen und in unserem Wohnzimmer unterwegs gewesen war. Bereits beim Weckerklingeln heute Morgen hatte ich mich furchtbar müde gefühlt. Nein, was mich wirklich verwirrte, war eigentlich nicht so sehr, dass ich eingeschlafen war, sondern die Tatsache, dabei auch noch geträumt zu haben.
    Ich träumte nämlich niemals.
    Und schon gar nicht so etwas.
    »Ich werte das als mangelndes Interesse am Unterrichtsstoff. Einzuschlafen! Eine Frechheit ist das«, erklärte Herr Bachmann und zückte die Fernbedienung, um den Film weiterlaufen zu lassen.
    »Aber ich schlafe nie ein«, sagte ich, weil es das war, was mir gerade durch den Kopf ging.
    Herr Bachmann schien das für einen Versuch zu halten, mich herauszureden, und steckte die Fernbedienung zurück in die Tasche seines senffarbenen Sakkos. (Seine Anzüge waren immer senffarben und er trug stets dazu passende Socken und Schuhe.) »Ach nein?«, sagte er. »Was ist denn zuletzt passiert?«
    »Tony ist für einige Wochen an die See gefahren.« Das war die letzte Szene, an die ich mich erinnerte.
    »Und dann?«
    »Dort hat sie sich in den Studenten Morten Schwarzkopf verliebt. Aber der ist arm und kann sie noch nicht heiraten. Als Tony nach Lübeck zurückkehrt, erkennt sie, wie wichtig es ist, zur Familie zu halten, und willigt in die Hochzeit mit Grünlich ein«, ratterte ich herunter.
    Herr Bachmann bedachte mich mit einem triumphierenden Blick. »Ha! Soweit waren wir noch gar nicht. Du hast geschlafen.«
    Ich zuckte mit den Achseln. »Zum Glück kenne ich ja das Buch.« In der Klasse war vereinzeltes Kichern zu hören, während mich von rechts ein Tritt von meiner besten Freundin Wiebke in die Wade traf.
    Auf Herrn Bachmanns Hals und Wangen bildeten sich rote Flecken. »Wie bitte?«
    »Ich meine, wir haben in diesem Halbjahr noch über nichts anderes als die Buddenbrooks gesprochen. Jeder hier kennt die Geschichte zur Genüge«, sagte ich. »Und der Film ist ziemlich, ach, er ist sogar stinklangweilig.« Wie eine Sendung im Teleshoppingkanal, wobei man sich über die wenigstens noch lustig machen konnte.
    »Langweilig?« Die roten Flecken bedeckten nun beinahe sein ganzes Gesicht. Herr Bachmann hatte die Wangen aufgebläht wie eine fette Kröte und sah aus, als würde er gleich platzen. »Du findest meinen Unterricht langweilig! «
    »Na ja –«
    »Nein, Herr Bachmann. Flora findet nur diesen speziellen Film ein klein wenig langweilig. Ihr Unterricht hingegen hat dafür gesorgt, dass wir alle uns bestens mit den Buddenbrooks auskennen. Er scheint also sogar sehr gut zu sein«, schaltete Wiebke sich ein, nicht ohne Herrn Bachmann ein strahlendes Lächeln zu schenken. Wiebke konnte einfach umwerfend lächeln, ich kannte niemanden, der so viel Charme hatte wie sie.
    Dem konnte sich wohl auch Herr Bachmann nicht entziehen, denn er wirkte von einem Moment zum nächsten besänftigt. »Nun, wenn das so ist.« Er strich sich über den Schnurrbart und dachte nach. »Ich glaube, ich habe euch tatsächlich schon sehr viel über dieses literarische Meisterwerk vermitteln können. Also gut, wir sehen uns den Film nur noch in dieser Stunde an«, sagte er schließlich und drückte wieder auf Play.
    »Diplomatie«, wisperte Wiebke und warf mir über den Rand ihrer Brille einen strengen Blick zu, während Tony auf dem Bildschirm in die Hochzeit mit Grünlich einwilligte. Diplomatie, das Wort, das Wiebke, seit wir uns vor über acht Jahren in der dritten Klasse kennengelernt hatten, gebetsmühlenartig wiederholte, wann immer ich es schaffte, mich um Kopf und Kragen zu reden. Sie hatte häufig Gelegenheit, es zu sagen, und jedes Mal nahm ich mir vor, in Zukunft erst zu denken und dann zu sprechen.
    »Bei dir sind irgendwelche Synapsen falsch verbunden«, erklärte Wiebke mir oft. »Vielleicht hast du Glück und es wächst sich noch aus.« Das hoffte ich auch, denn, nun ja, ich konnte ziemlich gut austeilen, besonders wenn ich es gar nicht wollte.
    Der Rest der Stunde verging ohne weitere Nickerchen
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