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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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nicht gewesen wärst, hätte der Kanzler jetzt jedenfalls, was er wollte«, beeilte ich mich zu sagen. Noch immer ließ mich allein die Vorstellung einer durch die Schattenreiter tyrannisierten realen Welt vor Furcht erzittern. Doch ich hatte dafür gesorgt, dass dies niemals geschehen würde. Es war richtig gewesen, natürlich.
    Aber Marian wollte es einfach nicht wahrhaben. »Und wenn du nicht gewesen wärst, wäre der Weiße Löwe nun nicht unwiederbringlich verloren«, stieß Marian mit solcher Heftigkeit hervor, dass ich zusammenfuhr.
    Er ist ja gar nicht verloren, dachte ich und wusste, dass es zugleich doch so war. Er war es immer gewesen, auch wenn Marian das nicht verstehen konnte. Es schmerzte mich, ihn belügen zu müssen, doch ich hatte keine Wahl.
    »Es tut mir leid, dass der Stein nun fort ist«, sagte ich. »Aber was hätte ich denn machen sollen?«
    Marian zuckte mit den Achseln. »Irgendwas! Irgendwas anderes, nur nicht das!«, rief er. Seine Stimme wurde rau. »Jetzt wird Ylva für immer in diesem … Zustand bleiben müssen. Und noch dazu gekettet an das kosmologische Materiophon. Eine Gefangene des Kanzlers tief in den Minen. Begreifst du nicht, was das für sie bedeutet? Sie kann nun niemals geheilt werden. Niemals!«
    Ich wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen, doch er stieß sie weg. Mit Daumen und Zeigefinger umklammerte er mein Handgelenk so fest, dass es wehtat.
    »Sie ist meine Schwester!«, rief er bebend.
    Ich nickte. »Ja, ich weiß.«
    »Nein«, murmelte er. Noch immer hielt er mich fest. »Du weißt gar nichts, Flora. Du … weißt nicht, was das Schlimmste ist.«
    »Dann sag es mir.«
    Er sah mir in die Augen und zum ersten Mal seit jener Nacht trafen sich unsere Blicke. »Das Schlimmste«, flüsterte Marian, »ist die Erleichterung.«
    Er zog mich näher zu sich heran. »Der Stein ist fort, Flora. Die Entscheidung ist gefallen und es gibt nichts, was ich daran noch ändern könnte. Es ist furchtbar, aber zugleich bedeutet es auch, dass ich dich nun nicht mehr verraten muss.« Er seufzte. »Ich bin froh darüber, aber das dürfte ich nicht sein. Ich müsste dich hassen.«
    »Aber?«, hauchte ich.
    »Das tue ich nicht«, sagte er und ich hatte das Gefühl, mein Innerstes würde vor Freude explodieren.
    Marian legte die Arme um mich und hielt mich fest. »Ich habe es versucht«, raunte er in mein Haar. »Glaub mir.«
    Ich trat einen halben Schritt zurück und sah zu ihm auf. Im nächsten Moment waren seine Lippen auf meinen, hart und besitzergreifend. Diesmal war es kein vorsichtiger Kuss, nicht einmal ein zärtlicher. Zorn lag darin. Und Verzweiflung. Dennoch erwiderte ich ihn, schmiegte mich an Marian und spürte eine Verletzbarkeit, die ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte, während er mich hielt, als könne niemand uns jemals etwas anhaben.
    Der Augenblick war perfekt.
    »Glaubst du, du kannst mir jemals verzeihen?«, hörte ich mich fragen. Verzeihen, was ich nicht getan habe? Verzeihen, dass ich dich belüge? Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Warum kamen ausgerechnet jetzt wieder Zweifel in mir auf? Und warum konnte ich meine verdammte Klappe nicht halten?
    Marian atmete schwer, seine Wangen wirkten dunkler, gerötet, wenn es in dieser Welt Farben gegeben hätte. Eine Sekunde lang musterte er mich, dann senkte er den Blick. Er rückte ein Stück von mir ab, bevor ihm die Antwort über die Lippen kam.
    »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Vielleicht in vielen Jahren. Vielleicht nie.«
    Ich nickte. »Denkst du, es gibt eine andere Möglichkeit, deine Schwester zu befreien?«, flüsterte ich.
    Marian atmete tief ein. »Wenn, dann werde ich sie finden. Das schwöre ich.«
    Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich ihm dabei helfen würde, schwieg dann aber doch.
    Die Musik nebenan war verklungen und jemand öffnete die Tür des Wintergartens. Die Schritte der Diener und das Klappern von Geschirr wurden mit einem Schwall Kerzenlicht hereingespült.
    »Marian?«, lallte Fluvius Grindeaut, der sich auf die Schulter eines Mädchens stützte. »Maaaaaaaaarian?«
    »Hilf mir, ihn nach Hause zu bringen«, rief Katharina.
    Marian strich mir über die Wange und lächelte traurig. »Ja«, murmelte er heiser. »Ich komme.«
    Dann eilte er davon und kurz darauf war ich wieder allein in der Dunkelheit. Ich fröstelte in meinem dünnen Kleid, nun, da Marians Arme mich nicht länger umfingen, und ich fühlte ein merkwürdiges Ziehen in meiner Brust. Gerade so,
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