Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
durch den Raum, mein Blick schweifte nervös über die Gestalten mit den beeindruckenden Kampfstäben. Da waren Katharina und Amadé, Männer und Frauen, die ich nur flüchtig kannte, und … tatsächlich fiel mir in diesem Augenblick ein weißblonder Haarschopf ins Auge, gleich neben einem der zum Wintergarten führenden Torbogen.
    Ich blinzelte, doch es gab keinen Zweifel: Marian wirkte blass und mitgenommen, aber er war da! Er lebte! Er war bei Bewusstsein! Es ging ihm gut genug, um herzukommen!
    Vor Erleichterung stahl sich ein Seufzen aus meinem Mund. Allein ihn zu sehen, war mehr, als ich erwartet hatte. Denn Marian war seit jener Nacht verschwunden gewesen. Nur allzu deutlich hatte Fluvius Grindeaut mich wissen lassen, dass Marian mich nicht sehen wollte oder konnte, weder in dieser noch einer anderen Welt. Man ließ mich nicht einmal mehr ein, wenn ich an das Portal von Notre-Dame klopfte. Die ganze Zeit über hatte ich mich gefragt, ob dies so war, weil Marian zu wütend war, nachdem ihm der Großmeister berichtet hatte, was geschehen war, oder ob es schlicht daran lag, dass Marian gestorben war. Dass er im Koma lag und ich die Schuld daran trug. Und ich hatte in den vergangenen Nächten oft geklopft. Oder mir tagsüber zusammen mit Wiebke in endlosen Telefonaten überlegt, was ich sagen würde, sollte ich ihn jemals wiedersehen.
    »Marian«, murmelte ich und wollte mich gerade zu ihm durchdrängeln, als mir plötzlich die Stille auffiel. Die Musik war verstummt, ebenso wie das Getuschel über mich oder das von Silberfäden durchwirkte Kleid, das ich trug und das meiner Mutter gehört hatte. Dafür sahen mich unzählige Augenpaare erwartungsvoll an. Verwirrt drehte ich den Kopf.
    »Der Fürst möchte Sie vorstellen«, flüsterte jemand irgendwo hinter mir und ich nickte geistesabwesend.
    Erst jetzt bemerkte ich meinen Vater, der vor seinem Thron stand und mich zu sich winkte, und die Gasse, die die Menge gebildet hatte, damit ich zu ihm gehen konnte. Langsam schritt ich durch den Saal, entfernte mich immer weiter von Marian, bis ich schließlich den Thron des Fürsten erreichte. Es war der Kanzler, der mir mit einer galanten Verbeugung die Hand reichte, um mir auf das Podest zu helfen. Als ich sie ergriff, durchfuhr mich ein Schaudern, so eiskalt war sie.
    Mein Vater legte mir beide Hände auf die Schultern. »Verehrte Untertanen, dies ist Flora, meine einzige Tochter, die vor Kurzem zur Wandernden wurde. Flora, die zukünftige Fürstin der Schattenwelt!«, verkündete er feierlich.
    Die Gäste applaudierten. »Auf Prinzessin Flora!«, riefen sie und erhoben die Gläser. Hunderte von Menschen lächelten mir zu, doch mein Blick hing an einer einzigen Gestalt auf der anderen Seite des Raumes.
     
    Ich traf ihn im Wintergarten. Er lehnte an einem marmornen Pflanzkübel und starrte in die Dunkelheit.
    »Hey«, sagte ich leise. »Hast du …? Geht … es dir gut?«
    Er regte sich nicht. Auch nicht, als ich näher trat.
    Gedämpfte Fetzen von Stimmengewirr und Musik drangen durch die Flügeltüren des Thronsaals. Es war spät geworden. Mehrere Stunden hatte ich damit verbracht, gemeinsam mit meinem Vater von einem Gast zum nächsten zu gehen und die Hände von Ministerinnen und Ministern, Industriellen und ihren Gattinnen zu schütteln. Erst jetzt, da die meisten sich bereits verabschiedet hatten oder auf ihre pferdelosen Kutschen warteten, hatte ich es geschafft zu entwischen.
    Anscheinend hatte man vergessen, die Gaslaternen des Wintergartens zu entzünden. Nach der strahlenden Helligkeit des Festes brauchte ich einen Moment, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Ich blinzelte und versuchte, Marians Gesicht zu erkennen, das im Schatten lag. Besonders gut gelang mir das nicht. Das Einzige, was ich wirklich sah, war das Funkeln seines glasharten Blickes, der auf mich gerichtet war. Und ich meinte zu bemerken, dass da wieder dieser seltsam entschlossene Zug um seinen Mund lag, der seinem Gesicht etwas Verzweifeltes verlieh. Fast schien es mir, als habe er sich nun für immer in seine Züge gegraben.
    Ich dachte daran, wie er sich direkt in den Schlag des Bettlers geworfen hatte, um mich zu beschützen. Die Worte sprudelten aus mir heraus wie ein Wasserfall: »Also … ich, äh, wollte dir unbedingt noch danken, dass du mir da unten geholfen hast. Ich meine, ich hatte Barnabas’ Stab überhaupt nicht gesehen und …«
    Marians Hände krallten sich in die Marmorkante, an der er lehnte.
    »Wenn du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher