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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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Spielzeug weggenommen hatte.
    »Wo ist er?«, zischte er und packte mich bei den Schultern. »Du dreckiges Miststück! Ich habe den ganzen Grund nach dir abgetaucht. Wo warst du? Was hast du mit ihm gemacht?«
    Ich merkte, wie sich ein Lächeln auf meine Züge stahl. Er schüttelte mich, griff grob nach meinem Arm und zerrte mich in Richtung Ufer. »Du willst es mir nicht sagen«, schrie er. »Na schön, dann werde ich dich eben dazu zwingen! Barnabas! Verdammt noch mal, wo bleibst du?«
    Ich zuckte zusammen, als er seinen Folterknecht rief. Doch mein Lächeln blieb. Denn mir war eine Idee gekommen, eine zwar, gegen die sich mein Innerstes sträubte, allerdings: Wenn mir gelang, was ich vorhatte … Während der Kanzler brüllte und tobte, bewegte ich unter Wasser ganz vorsichtig meine freie Hand. Langsam streckte ich sie dem Kanzler entgegen. Er war viel zu wütend, um es zu bemerken. Schon glitten meine Finger in die Tasche seiner Weste und da fand ich sie, die Sichel. Seine Hälfte des Telechromaten. Mit einer flinken Bewegung angelte ich den Metallbogen heraus und ließ ihn in meine Hosentasche rutschen.
    Gerade noch rechtzeitig, bevor der Bettler mich packte und an Land zog. Ich tat so, als müsse ich zu Atem kommen, fuhr mir mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und registrierte erleichtert, wie Barnabas dem Kanzler half, auf das Plateau zu klettern.
    Unauffällig robbte ich über den Fels, dessen raue Oberfläche mir die Hände aufschürfte. Trotzdem schob ich mich weiter, es fehlte nur noch ein kleines Stück, dann schloss sich meine Hand um den zweiten Telechromaten, meine Sichel, die ich vorhin hatte fallen lassen. Rasch bedeckte ich meinen Fund mit dem Körper.
    »Wo ist er?«, donnerte der Kanzler über mir. »Los, sag es! Sag es!«
    »Gut«, murmelte ich. »Also gut.« Mühsam rappelte ich mich auf, kam auf die Knie und strich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. Jeder meiner Muskeln schmerzte, mir war noch immer schwindelig. Aber schließlich stand ich dem triefnassen Kanzler und seinem Folterknecht gegenüber. Hocherhobenen Hauptes begegnete ich ihren Blicken.
    »Nun, Flora, wo befindet sich der Weiße Löwe?«, fragte der Kanzler, der sich nun anscheinend wieder halbwegs im Griff hatte und sich sogar um einen zivilisierten Gesichtsausdruck bemühte.
    »Ich habe ihn versteckt«, sagte ich. »So wie meine Seele es schon einmal getan hat.«
    »Aber nicht auf dem Grund des Sees.«
    »Nein, nicht auf dem Grund des Sees. Und dieses Mal müssen Sie mich auch nicht jagen und ausspionieren und bedrohen, um zu erfahren, was ich weiß. Dieses Mal werde ich es Ihnen freiwillig sagen, und zwar jetzt gleich.« Stumm betete ich darum, mich nicht zu irren. Denn wenn ein Telechromat bestimmte Erinnerungen zu einem zweiten weiterleitete, dann mussten zwei sich doch gegenseitig … Die Vorstellung, es zu tun, ließ mich erschaudern. Gerade erst hatte ich mein Gedächtnis wiedergefunden. Wollte ich da wirklich, konnte ich da …?
    Der Kanzler hob eine Augenbraue und da wusste ich, mir blieb keine Wahl. Einen Herzschlag lang befürchtete ich, der Kanzler habe mich durchschaut. Doch dann wanderte sein Blick zu Barnabas und er begann zu lächeln, weil er glaubte, ich hätte Angst vor den drohenden Schmerzen.
    »Freiwillig, ja?« Die Augen des Kanzlers glommen auf.
    Ich nickte. »Gleich nachdem ich das hier getan habe«, sagte ich, holte noch einmal tief Luft und hob dann in einer plötzlichen Bewegung meine beiden Hände über den Kopf. In jeder von ihnen hielt ich eine der glühenden Sicheln. Ich spürte, wie ein roter und ein blauer Lichtschein über mein Gesicht glitten.
    Das Lächeln des Kanzlers gefror zu Eis. Von einer Sekunde zur nächsten wurde er so blass, dass er nun beinahe durchscheinend erschien. »Nein!«, flüsterte er. »Nein! Tu das nicht!« Wie ein Wahnsinniger stürzte er auf mich zu. Mit einem Satz war er bei mir, riss an meinen Armen.
    Aber es war zu spät.
    In diesem Moment berührten sich die beiden Telechromaten und verbanden sich zu einem Reif. Ihre Spitzen tauchten ineinander ein, ihr Glühen vermischte sich zu einem tiefen Violett. Der Rückstoß warf mich zu Boden.
    Wie ein Blitz durchzuckten mich all meine Erinnerungen an den Stein. Ich rannte noch einmal durch die Tunnel, fühlte das Gewicht des Steins in meiner Hand, strich über seine Oberfläche, sprach mit Marian, stand vor den nachtschwarzen Pyramiden von Giseh und tauchte hinab durch Fels und Licht. Noch einmal hörte ich, wie der
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