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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben
Autoren: Gian Domenico Borasio
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Vorwort
    Der Anstoß zum Schreiben dieses Buches kam vor allem von Zuhörern meiner Vorträge über das Sterben, die mich immer wieder danach fragten, ob sie das, was sie gerade gehört und als hilfreich empfunden haben, nicht in einem Buch nachlesen könnten. Einige Zuhörer, die schon eigene Erfahrungen mit dem Sterben von Freunden oder Familienangehörigen gemacht hatten, sagten mir, dass sie sich im Nachhinein gewünscht hätten, vieles davon schon zu einem früheren Zeitpunkt erfahren und reflektiert zu haben.
    Ein weiterer Anstoß für dieses Buch entstammt einer wiederholten Beobachtung: Viele Menschen, auch (und gerade) hochgebildete und blitzgescheite, verhalten sich im Angesicht des Todes auf erstaunliche Weise irrational. Das gilt für Sterbende und ihre Angehörigen, was vielleicht weniger verwunderlich ist. Es gilt aber genauso für professionell Beteiligte wie insbesondere Ärzte. Zahlreiche Beispiele in diesem Buch verdeutlichen diesen Aspekt. Was ist die Ursache solch irrationalen Verhaltens? Die Antwort lautet fast immer: Angst.
    «Angst» ist die unausgesprochene Überschrift über viele hitzig geführte Debatten über das Lebensende; sie ist das, was bei Arzt-Patienten-Gesprächen über lebensbedrohliche Erkrankungen unausgesprochen im Raum steht und so oft geflissentlich übersehen wird; sie ist das größte Hindernis für die Kommunikation über und im Sterben; und sie ist (gemeinsam mit der verbesserungswürdigen ärztlichen Fachkompetenzam Lebensende) der Hauptgrund für Fehlentscheidungen und leidvolle Sterbeverläufe.
    Trotz der Fülle an Literatur zum Thema ist immer noch eine Tabuisierung des Todes in unserer Gesellschaft zu beobachten, die zum einen mit der grundsätzlichen Angst vor der Auslöschung des eigenen Ichs beim Sterben zusammenhängt. Hinzu kommt aber die konkrete, weit verbreitete Angst vor einem qualvollen Sterbeverlauf und auch die Angst vor dem Ausgeliefertsein an lebensverlängernde medizintechnische Maßnahmen, die – ohne dass man selbst die Chance zum Eingreifen hätte – den Sterbeprozess unnötig in die Länge ziehen.
    Hauptziel dieses Buches ist es, den Menschen die Angst vor dem Sterben, vor allem die Angst vor einem qualvollen Sterben, ein Stück weit zu nehmen. Die sehr konkreten Ängste vieler Menschen vor Leiden und Kontrollverlust führen paradoxerweise in einer Art von
self-fulfilling prophecy
(sich selbst erfüllender Voraussage) dazu, dass die Befürchtungen der Menschen in dem Maße eintreten, in dem sie ihren Ängsten erlauben, die Kontrolle über ihr eigenes Handeln zu übernehmen. Denn Angst verzerrt die Wahrnehmung, vermeidet die Information und verhindert den Dialog. Diese drei Voraussetzungen sind aber zentral für eine gute Vorbereitung auf das eigene Lebensende. Und die Menschen, die wir am Lebensende betreuen dürfen, lehren uns, dass die Vorbereitung auf das Sterben die beste Vorbereitung für das Leben ist.
     
    München/Lausanne, im August 2011
    Gian Domenico Borasio

1
Was wissen wir über das Sterben?
    Es ist erstaunlich: Mit Ausnahme der Geburt betrifft kein medizinisches Ereignis so unweigerlich alle lebenden Menschen wie das Sterben. Und doch ist es ein weitgehend unerforschtes Gebiet. Über das Geborenwerden wissen wir sehr viel: Hunderttausende Publikationen und Tausende von Lehrbüchern beschäftigen sich mit den Vorgängen vor und während der Geburt eines Menschen. Die Embryologie hat die Schritte von der Befruchtung der Eizelle bis hin zur Entwicklung eines lebensfähigen Fötus in allen Einzelheiten studiert. Zum Teil ist sogar bekannt, welche Genabschnitte welche embryonalen Stadien wann und wie steuern. Aber was wissen wir über das Sterben? Hier sind die meisten Fragen noch offen, angefangen von der wichtigsten:
Warum sterben wir?
    Die Frage ist weniger banal, als sie scheint. Immerhin ist es Wissenschaftlern gelungen, durch genetische Manipulation die biologische Lebensspanne niederer Organismen (z.B. einer bestimmten Algenspezies) scheinbar unbegrenzt zu verlängern. Dies wurde möglich, seit bekannt ist, dass spezielle Abschnitte an den Enden unserer Chromosomen (sog. Telomere) die zu erwartende Lebensspanne der Einzelzellen bestimmen, aus denen jeder Organismus zusammengesetzt ist. Den biologischen Sinn einer begrenzten Lebenszeit sehendie Evolutionsforscher[ 1 ] in der Optimierung der Weitergabe unseres genetischen Materials. Nach der sogenannten «Selfish-DNA-Hypothesis» (Hypothese der egoistischen Erbsubstanz) sind alle
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