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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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Sturmflut.
    Marian!
    Mit zitternden Fingern strich ich ihm das weißblonde Haar aus der Stirn. Sie fühlte sich kalt an, obwohl ein dünner Schweißfilm darauf lag. Schmerzhaft langsam hob und senkte sich seine Brust.
    »Marian? Kannst du mich hören?«
    Ich legte meinen Zeigefinger an seinen Hals, um den Puls zu fühlen, doch der Großmeister stieß meine Hand zur Seite. »Verschwinde von hier, Flora«, sagte er. »Ich kümmere mich schon um ihn. Das habe ich immer getan, sein ganzes Leben lang.«
    »Aber–«
    »Er ist der beste Kämpfer, den der Graue Bund jemals gesehen hat, wusstest du das?«
    Ich schüttelte den Kopf. Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und rollte über meine Wange.
    Der Großmeister strich Marian über die schweißnasse Stirn. »Das ist er. Und wenn er aufwacht, wird es ihn nicht gerade freuen, dass es nun keine Möglichkeit mehr gibt, seine kleine Schwester zu befreien.«
    Nein! Ich biss mir auf die Lippe. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, dass ich rein gar nichts vergessen hatte. Doch dann begriff ich: Es war besser so. Denn diese Möglichkeit hatte es schließlich auch vorher nicht gegeben. Marian hatte seine Schwester niemals befreien können, nicht ohne die Welten in Chaos zu stürzen, nicht ohne dem Kanzler und seinen Schattenreitern den Weg in die Realität zu ebnen. Und das wusste der Großmeister genauso gut wie ich. Dennoch bedurfte es anscheinend einer klaren Entscheidung und einer Person, die stark genug war, sie zu treffen. Und es sah ganz danach aus, als fiele diese Rolle mir zu.
    Ich schlug die Augen nieder. Der Stein war verschwunden und mit ihm mein Wissen. Ich würde alle in diesem Glauben lassen. Auch wenn sie mich dafür vielleicht hassten.
    Mit einem Mal fühlte ich mich meiner schlafenden Seele so nahe wie nie. Auch dieses fremde Ich hatte alles dafür getan, den Stein zu verbergen. Obwohl es bedeutete, sich gegen den Mann zu entscheiden, den sie liebte. Es kostete mich all meine Willenskraft, den Blick von Marians durchscheinender Haut zu lösen und stattdessen den Großmeister anzusehen.
    »Hatte ich denn eine andere Wahl?«, flüsterte ich. »Ich musste es doch tun.«
    Ein merkwürdiger Ausdruck trat auf das runzlige Gesicht des alten Mannes. Ich war mir nicht sicher, ob es Wehmut oder Wut war, die unter den buschigen Brauen aufflackerte.
    »Vielleicht«, sagte Fluvius Grindeaut langsam. »Fest steht allerdings, dass der Weiße Löwe nun für immer verloren ist. Damit wurde dieser Welt ein Stück Magie geraubt. Unwiederbringlich. Der Kanzler wird dir das niemals verzeihen und möglicherweise sollte ich das ebenfalls nicht tun. Und Marian …« Er seufzte. »Du meine Güte, Flora, geh endlich!«
    Ich zögerte, dann nickte ich. Ein letztes Mal betrachtete ich den lackschwarzen See, der mir entgegenschimmerte. Unter seiner spiegelnden Oberfläche würde er sein mächtiges Geheimnis hoffentlich für alle Zeit bewahren.
    »Also dann«, murmelte ich und wandte mich zur Treppe. Stufe um Stufe stieg ich sie empor und es kam mir vor, als entfernte ich mich mit jedem Schritt, den ich tat, ein bisschen mehr von mir selbst. Kurze Zeit später trat ich begleitet von Sieben hinaus in die Straßen Eisenheims. Barfuß und vollkommen durchnässt rannte ich durch Kälte und Dunkelheit.
     
    Und zu rennen war alles, was ich tat. Viele Stunden lang, selbst dann noch, als ich um vier Uhr morgens schweißgebadet in meinem Bett erwachte. Ich dachte nicht nach, als ich mich aufsetzte, die Decke zurückschlug und in Sweatshirt und Jogging Hose schlüpfte. Ich stürzte den Flur entlang und riss die Tür des Arbeitszimmers auf. Und hatte in der nächsten Sekunde das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen habe sich in Luft aufgelöst.
    Sein Bett …
    War leer!
    Das Laken war zerwühlt, die Bettdecke zu einem Haufen am Fußende zurückgeschlagen. Auf dem Boden davor lag ein verschwitztes T-Shirt. In der Ecke hinter der Tür stand sein Rucksack. Doch Marian war fort.
    Panisch lief ich von Raum zu Raum, suchte nach ihm. Im Bad, in der Küche, in meinem Kleiderschrank, unter der Couch. Erfolglos. Ich hatte es geahnt und kurz darauf kam die Gewissheit: Marian. War. Fort.
    Plötzlich war es in der Wohnung furchtbar stickig. Und ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran zu rennen. Zu rennen bis zum Ende der Welt und darüber hinaus. Nicht einmal den Haustürschlüssel steckte ich ein. Alles, was ich wollte, war laufen. Weiter und immer weiter
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