Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
vom Kanzler über den Großmeister bis zum Plateau hinüber, auf dem noch immer Marians reglose Gestalt lag, umringt von Barnabas und den beiden Schattenreitern. »Und zwar vor euch allen!«, fügte ich grimmig hinzu und sprang einen Herzschlag später zum zweiten Mal in dieser Nacht in die eisigen Fluten.
    Es war keine bewusste Entscheidung gewesen. Eher so eine Art Reflex. Ein Instinkt, dem ich folgte.
    Das Wasser empfing mich mit offenen Armen. Es umschloss meinen Körper wie ein Kokon aus Dunkelheit, in dem Raum und Zeit bedeutungslos wurden. Die Kälte brannte auf meiner Haut und kroch mir in die Knochen. Doch ich achtete gar nicht darauf. Mit kräftigen Zügen tauchte ich in die Tiefe, weiter und immer weiter hinunter in die vollkommene Stille des Sees. Ich hörte nichts als meinen eigenen Puls, und als meine Finger erneut auf felsigen Grund stießen, wurde die Luft in meinen Lungen bereits knapp. Dennoch schwamm ich weiter, alles, was in diesem Augenblick von Bedeutung war, war, den Weißen Löwen in Sicherheit zu bringen. Meine Hände glitten in das Gestein hinein, ebenso meine Arme, meine Schultern … Ich wusste, es war die Kraft des Steins, die mich dazu befähigte. Rasch tat ich einen weiteren Zug und spürte den Fels wie Sandpapier über meine Wangen streichen. Dann umschloss er meinen Nacken, meinen Rücken, meine Hüften und schließlich meine Beine.
    Und noch immer tauchte ich weiter.
    Tiefer und tiefer bahnte ich mir meinen Weg durch die Finsternis. Der Weiße Löwe pulsierte heiß an meiner Brust. Meine Lungen drohten zu zerbersten und ich spürte bereits, wie sich mein Bewusstsein ganz langsam in die hinterste Ecke meines Hirns verkroch.
    Da sah ich das Licht.
    Zuerst glaubte ich, der Stein in meiner Hand habe wieder zu leuchten begonnen. Im nächsten Moment erkannte ich jedoch, dass da gar nicht nur ein Licht war, sondern viele. So strahlend hell, dass ich blinzeln musste. Gleißend umfing es mich, geblendet legte ich eine Hand über die Augen und bemerkte, dass ich den Fels hinter mir gelassen hatte. Schwerelos hing ich in einem Raum aus Licht, so schien es mir. Alles um mich herum war makellos weiß, es dauerte einen Augenblick, bis ich die Marmorsäulen entdeckte, die das Deckengewölbe (oder den Fußboden?) trugen. Vielleicht war dies eine Halle, überlegte ich, obwohl ich die Wände nicht sehen konnte. Dafür entdeckte ich etwas anderes: Nicht weit von mir stand es, wie gemacht für den Weißen Löwen. Seiner würdig. Das ideale Versteck!
    Ich schwamm durch das Licht. Ein letztes Mal betrachtete ich den Weißen Löwen in meiner Hand. Ein letztes Mal fuhr ich mit den Fingerspitzen über seine raue Oberfläche, zeichnete seine Maserung nach, fühlte seine Macht, die mich erzittern ließ. Dann schloss ich ihn fort. Für immer sollte er hier unten ruhen.
    In Sicherheit am Ende der Welt.
    Der Rückweg war das Schlimmste. Noch durchströmte mich die Macht des Steins wie ein weißes Glühen und ermöglichte es mir erneut, die Gesteinsmassen zu durchqueren. Doch diese Macht wurde rasch schwächer. Mit immer langsameren Bewegungen kämpfte ich mich durch Fels und Wasser, während meine Sinne schwanden. Einzig das Wissen darum, den Weißen Löwen verborgen zu haben, gab mir die Kraft weiterzumachen. Es war, als dringe die Schwärze durch jede Pore meines Körpers, um mich auszuhöhlen. Tonnenschwer drohten meine Kleider mich in die Tiefe zu ziehen. Rasch streifte ich Mantel und Schuhe ab. Meine Lungen brannten wie Feuer. Mein Kopf schmerzte vor Anstrengung. Doch auf irgendeine Weise, noch lange danach vermochte ich nicht zu sagen, wie, gelang es mir.
    Wasser spritzte in alle Richtungen, als ich die Oberfläche durchbrach. Endlich konnte ich wieder atmen! Das Gefühl von Sauerstoff in meinen Adern berauschte mich. Gierig sog ich die Luft ein. Wieder und wieder.
    Erst dann bemerkte ich, wo ich mich befand: Wie beim ersten Mal trieb ich etwa in der Mitte des Sees. Und nicht weit von mir entfernt entdeckte ich eine weitere Gestalt in den Fluten. Mit wenigen Zügen war der Kanzler bei mir. Wasser rann ihm über das ebenmäßige Gesicht, die perfekt geschwungenen Brauen. Sein langes Haar war noch dunkler als sonst und hing ihm wirr über die Schultern. Von seinem seidenen Zylinder fehlte jede Spur und nun sah er tatsächlich aus wie ein Junge. Nicht einmal das weise Glimmen in seinen Augen war zu sehen. In seinem Blick lag nichts als Wut. Der grenzenlose, eisige Zorn eines Jungen, dem man sein liebstes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher