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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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Prolog
    Heute habe ich einen Mann sterben sehen.
    Es war ein unerwartetes Ereignis, und ich staune immer noch darüber, dass sich dieses Drama direkt zu meinen Füßen abspielte. So vieles von dem, was unserem Leben Würze gibt, ist nicht vorhersehbar. Deshalb müssen wir lernen, die Schauspiele, die es für uns bereithält, zu genießen, wann immer sie geboten werden, und die seltenen Momente des Nervenkitzels als Lichtblicke im sonst so monotonen Fluss der Zeit zu schätzen. Und meine Tage vergehen quälend langsam hier hinter diesen Mauern, wo Menschen nur Zahlen sind, wo man uns nicht nach unseren Namen oder unseren von Gott verliehenen Talenten unterscheidet, sondern nur nach der Art unserer Vergehen. Wir tragen identische Kleidung, essen die gleichen Mahlzeiten, lesen die gleichen zerfledderten Bücher von ein und demselben Bibliothekswagen. Ein Tag ist wie der andere. Und dann erinnert uns plötzlich ein ungewöhnlicher Vorfall daran, zu welch überraschenden Wendungen das Leben fähig ist.
    So geschehen heute, an diesem zweiten August, der zu einem wunderbar heißen und sonnigen Tag herangereift ist, so wie ich es liebe. Während die anderen Männer schwitzen und träge umherschleichen wie Vieh auf der Weide, stehe ich in der Mitte des Gefängnishofs, das Gesicht zur Sonne gewandt, wie eine Eidechse, die die Wärme gierig aufsaugt. Ich habe die Augen geschlossen, weshalb ich den Messerstich selbst nicht sehe; und ich sehe auch nicht, wie der Mann taumelt und hinterrücks zu Boden fällt. Aber ich höre das aufgeregte Stimmengewirr um mich herum und schlage die Augen auf.
    In einer Ecke des Hofs liegt ein Mann blutend auf der Erde. Alle anderen weichen zurück und setzen ihre gewohnten Masken der Gleichgültigkeit auf – nichts sehen und nichts wissen ist ihr Motto.
    Nur ich gehe auf den Gefallenen zu.
    Einen Moment lang stehe ich da und blicke auf ihn herab. Seine Augen sind offen, er ist bei Bewusstsein; ich muss ihm wie ein dunkler Schattenriss vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels erscheinen. Er ist jung, mit weißblondem Haar, sein Bart kaum dichter als Flaum. Als er den Mund aufmacht, quillt rosafarbener Schaum heraus. Auf seiner Brust breitet sich ein roter Fleck aus.
    Ich knie neben ihm nieder und reiße sein Hemd auf, um die Wunde freizulegen, die sich unmittelbar links vom Brustbein befindet. Die Klinge ist sauber zwischen zwei Rippen eingedrungen und hat mit Sicherheit die Lunge durchbohrt, vielleicht auch den Herzbeutel verletzt. Die Wunde ist tödlich, und er weiß es. Er versucht etwas zu sagen. Seine Lippen bewegen sich lautlos, seine Augen mühen sich verzweifelt, mich zu fixieren. Er will, dass ich mich näher zu ihm herunterbeuge, vielleicht um seine letzte Beichte zu hören, aber ich bin nicht im Geringsten daran interessiert, was er mir zu sagen hat.
    Stattdessen habe ich nur Augen für seine Wunde. Für sein Blut.
    Ich bin mit Blut bestens vertraut. Ich kenne es in- und auswendig, ich weiß Bescheid über seine Zusammensetzung. Ich habe zahllose Röhrchen mit dieser Flüssigkeit in den Händen gehalten, habe seine vielen verschiedenen Abstufungen von Rot bewundert. Ich habe es in der Zentrifuge geschleudert und in zweifarbige Säulen von dicht gepackten Zellen und strohblassem Serum getrennt. Ich kenne seinen Glanz, seine seidige Konsistenz. Ich habe seinen schimmernden Strom aus frischen Schnitten in der Haut fließen sehen.
    Das Blut strömt aus der Brust des Mannes wie wundertätiges Wasser aus einer heiligen Quelle. Ich drücke den Handteller auf die Wunde, bade meine Haut in der feuchten Wärme, und das Blut überzieht meine Hand wie ein scharlachroter Handschuh. Er glaubt, dass ich ihm helfen will, und Dankbarkeit blitzt in seinen brechenden Augen auf. Dieser Mann hat in seinem kurzen Leben sehr wahrscheinlich nur wenig Nächstenliebe erfahren. Welche Ironie, dass ausgerechnet ich einem Sterbenden als das Antlitz der Barmherzigkeit erscheine.
    Hinter mir höre ich das Scharren von Stiefeln und eine Stimme, die in barschem Ton befiehlt: » Zurück! Alles zurücktreten! «
    Irgendjemand packt mich am Hemd und reißt mich hoch. Ich werde nach hinten gestoßen, weg von dem sterbenden Mann. Staub wirbelt auf, und die Luft ist von Schreien und Flüchen erfüllt, während man uns in einer Ecke zusammenscheucht. Das Werkzeug des Todes, das Messer, liegt unbeachtet auf der Erde. Die Wachmänner traktieren uns mit Fragen, aber niemand hat etwas gesehen, niemand weiß etwas.
    Nie
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