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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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durch die Finsternis der regennassen Straßen. Laufen, ohne mir Sorgen um Marian zu machen. Ohne mir das Gehirn zu zermartern, ob er lebte, ob er gegangen war, weil er mich nun hasste. Nur die eigenen Schritte hören, den Rhythmus meines Atems dem meines Herzschlags anpassen …
    Ich beobachtete mich selbst, als wäre es jemand Fremdes, der durch das Treppenhaus nach unten stürmte und in die Nacht hinausschlüpfte.
    Niemand war um diese Zeit unterwegs. Wie ausgestorben lag die Stadt da, keine Autos, die vorbeifuhren, keine Menschen. Nicht einmal Licht entdeckte ich in den unzähligen Fenstern des Häuserzugs. Kein Lüftchen regte sich. Nichts.
    Kein Gedanke. Kein Schuldgefühl. Keine Angst.
    Nur ich war hier, zusammen mit dem dumpfen Geräusch meiner Turnschuhe auf dem Asphalt.
    Wie von selbst trugen meine Füße mich davon, die Straße entlang, weiter und weiter. Ich wusste nicht, wohin sie mich führen würden, und es war mir auch egal. Kühle Luft strömte in meine Lungen. Die Nacht war sternenklar und kalt, doch ich dachte nie an etwas anderes als den nächsten Schritt, das Zusammenspiel meiner Muskeln und Sehnen, den nächsten Atemzug.
    Wind blies mir ins Gesicht und zerzauste mein Haar. Häuser und Straßen zogen an mir vorbei, die Schienenstränge der Straßenbahn, eine Baumgruppe, ein Friedhof voll uralter Grabstätten. Irgendwann bekam ich Seitenstechen. Ich wurde müde. Ich fror.
    Doch ich wurde nicht langsamer.
    Ich lief.
    Lief immer weiter.
    Denn ich ahnte, sobald ich anhielte, würden sie mich überrollen wie ein Tsunami. All diese Gedanken. All das, was heute geschehen war, was ich getan hatte. Meine Verzweiflung und … Nein, nicht einmal denken konnte ich seinen Namen in dieser Nacht.
    Stattdessen rannte ich. Einen Hügel hinauf, quer über einen Sportplatz, vorbei an einer Apotheke, einer Bahnhaltestelle, einer Sparkassenfiliale, deren Werbetafeln einsam in die Stille hinausleuchteten. Und während ich rannte, verwandelte sich die Zeit in eine träge Masse. Sekunden wurden zu Stunden, Stunden zu Minuten.
    Irgendwann erreichte ich einen Ort, den ich kannte. Kieswege, die unter meinen Füßen knirschten, Bäume und Rasenflächen, Bänke. Und ganz am Ende eine Straße, ein Haus mit blau gestrichener Fassade und einem Willkommen-Schild neben der Klingel. Beinahe wäre ich daran vorbeigestürzt, aber dann bemerkte ich es doch.
    Mein Blick wanderte hinauf zu den Fenstern. Auch sie lagen im Dunkeln. Wiebkes ebenso wie das von Linus. Ich wusste, die beiden waren dort. Meine Freunde. Sie schliefen, genau wie mein Verstand, und ahnten nicht, was geschehen war. Was ich getan hatte. Dass das Klappbett in unserem Arbeitszimmer nun leer war.
    Ich rannte, bis die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont krochen und die Stadt in einen trüben Morgen tauchten.
    Nirgendwo entdeckte ich einen Schattenreiter.
    Nirgendwo den Jungen, den ich liebte und in dieser Nacht verloren hatte.

23
PALASTSCHATTEN
    Mein Vater veranstaltete einen Ball, um mich seinen Untertanen offiziell vorzustellen. Mehr als einmal hatte ich in den vergangenen Tagen versucht, ihm zu erzählen, was vor mittlerweile über einer Woche in der Grotte unter den Pyramiden geschehen war. Aber mein Vater … nun ja, er war eben, wie er war. Die Vorstellung, sein treuer Kanzler könnte ihn in irgendeiner Weise hintergangen haben, hielt er für so absurd, dass, was ich auch sagte, nicht einmal in die Nähe seines Verstandes vorzudringen schien. Meinen Part bei der ganzen Sache, die Tatsache, dass ich den Weißen Löwen versteckt und meine Erinnerungen daran angeblich gelöscht hatte, glaubte er mir hingegen durchaus. Und es erfreute ihn ganz und gar nicht.
    »Dieser Stein war wertvoll, Flora, nicht einfach bloß ein großer Kiesel! Und egal, was du gedacht hast und welchem Missverständnis du erlegen bist, du hättest mit mir darüber sprechen können, bevor du so etwas tust. Zufällig gehörte der Weiße Löwe nämlich mir. Zufällig bin ich der Schattenfürst und weiß, was in dieser Welt vorgeht und was nicht«, hatte er mir erst vorhin wieder vorgehalten, bevor irgendein Minister ihn in ein Gespräch über Stollenbreiten verwickelt und in ein Hinterzimmer geführt hatte.
    Allein mischte ich mich unter die Gäste, die sich bereits in großer Zahl im Thronsaal des Palastes tummelten. Überall um mich herum funkelten Diamantcolliers und Krawattennadeln im flackernden Licht. Über fünfhundert schwebende Kerzen erhellten den Saal in dieser Nacht und tauchten
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