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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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Die Grenzen des Meeres
    Alte Männer sitzen auf Mauern und beobachten das Meer; junge Männer tun’s ebenso, aber aus Pflichtgefühl. Zwischen Netzen und grünen Glaskugeln tun sie es, scheinen den Himmel zu lesen wie eine Zeitung. An allen vier Ecken des Kompaß sitzen sie auf Mauern, als wäre das Meer eine weite Arena voll Schauspiel und Pomp und Bedeutung, was es für sie auch ist. Der Duft von Teer und brackigem Wasser, dick wie Blut für die Riechnerven, schwebt um die Ränder dieser Arena, und die alten Männer bemerken ihn nicht mehr. Sie sind weit hinaus über so banale Beobachtungen, auf die eine Landratte in den Ferien begeistert fliegen mag; sie sind über Dichtung und Wahrheit hinaus, in jenem Reich letzter Einfachheit, das sie vom Leben so sicher trennt, wie das Glück und die Seemannskunst sie stets vom Tod geschieden haben. Sie verbringen ihre Tage in einem wortlosen Limbus des Begreifens. Sie denken an nichts und verstehen.
    Festgepflanzt wie Bäume oder eher wie Masten und auf den besten Plätzen, starren sie mit der leuchtenden Geduld alter Hunde auf das weite Jagdrevier. Sie sind Teil der Meereslandschaft, und oft scheint es, daß sie – Asche zu Asche und Staub zu Staub – langsam in die Natur zurückkehren, ohne Erstaunen und ohne Angst vor dem Tod. Die Muscheln am Strand sehen aus wie abgeworfene Fußnägel dieser alten Männer, und sie sind schöner als an den Zehen, dort zwischen all den anderen Überresten der Vergängnis, den zerbrochenen Ankerflügeln, den sandverklebten Krabben, den Silberfischen mit ihren überraschten Augen, dem einsamen Damenschuh, dem verrosteten Spielzeug. Gereinigt durch Salz und durch Jod, sterilisiert im großen Spital des Meeres, sind Verfall und Auflösung dort an der Küste genauso beziehungsreich wie die geborstenen Säulen und nasenverletzten Götter im Binnenland, und sie sind noch älter. Hier gibt es keinen Kompromiß. Unnötig, sich die Fernsehantennen wegzudenken, die als Silhouetten vor dem pfirsichfarbenen Himmel über dem Kolosseum stehen; unnötig, halb die Augen zu schließen, um diese Autostrada auszulöschen, die sich um bröckelnde Tempel und starre Palisaden schwingt. Die See ist, was sie immer war, und wenn ein Flugzeug für ein Weilchen darüber hinpfeift und -heult, wischt sie es weg, wie ein Pferd eine Fliege verscheucht. Der Landmensch hat noch kein Mittel gefunden, vom Meer Besitz zu ergreifen, es zu zähmen und es dem eiskalten Willen der Mechanik zu unterwerfen, während der Seemann etwas Besseres weiß, als dies zu versuchen.
    Mit großer Nachsicht und ohne Kritik beobachten die alten Männer die Urlauber: diese krampfadrigen Säulen weißen Fleisches, die wie geäderte Marmorbrocken unter den Baldachinen geraffter Röcke im seichten Wasser stehen; diese fülligen Bäuche, die sanft zum Krater des Nabels ansteigen; diese kleinen Kinder (die einzig Vernünftigen, nach unausgesprochener Meinung der alten Männer), die sich vor Wut und Angst das Herz aus dem Leibe schreien, während ihre lachenden Eltern (diese Idioten) mit Gewalt versuchen, sie Schwimmen zu lehren; diese gebräunten Damen, im Fettglanz stinkender Salben, die mit der gleichen tiefen Hingabe die Sonne anbeten, wie ihre Vorfahrinnen sie einst Gott vorbehielten, und nur ein sündhaft teures Taschentüchlein zwischen sich selbst und einem Skandal.
    Dort fahren die Kabinen-Yachten; ihre Besitzer tragen flotte Mützen mit Ankern und Flechtkordeln über dem Schirm – und kein Fünkchen, kein blasser Dunst von Himmelsnavigation bei ihnen allen. Und dort die Playboys und Freizeitmädchen; kreischend flitzen sie auf parallelen Holzplanken vorbei, stehen erst auf dem einen Bein, dann auf dem anderen und versinken dann zwischen den Kämmen der Dünung. All dies war ein hochsommerlicher Wahnsinn, eine Art Hitzekrankheit. Die Leute von jenseits der Berge haben Köpfe wie leere Eierschalen, und der erste Sonnenstrahl, die erste Brise Seeluft stürzen sie in einen geisteskranken Flirt mit dem seichten Wasser. Die alten Männer überblicken dies alles mit dem Gestus großer Liebender, die eine lebenslange Leidenschaft für eine anspruchsvolle Geliebte hinter sich haben. Sie sind in die Tiefen der Trauer getaucht, haben sich auf die Gipfel der Wonne geschwungen, schweigend und einsam und für ein ganzes Leben. Geistesabwesend registrieren sie diese nichtigen kleinen Ekstasen, diese unwürdige, hinterngrapschende Verführung ihres Elements. Kaum hören sie die Saxophone und zischenden
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