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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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meinerseits. Herr Bachmann unterbrach den Film nicht noch einmal und so nutzte ich die Zeit, um mich weiter über meinen Traum zu wundern. Jedenfalls glaubte ich, dass es einer gewesen war. Wie gesagt, ich hatte noch nie etwas geträumt und das bisher eigentlich auch ganz in Ordnung gefunden.
    »Zu träumen lenkt einen bloß vom richtigen Leben ab und meistens ist es sowieso kompletter Blödsinn«, pflegte unsere Haushälterin Christabel zu sagen, die sich seit der Trennung meiner Eltern vor zehn Jahren um meinen Vater und mich kümmerte beziehungsweise es versuchte. »Wenn es dir aus Versehen doch mal passiert, sag mir Bescheid, Engelchen, dann gebe ich dir eine von meinen Tabletten, damit schläfst du wieder wie ein Stein.«
    Ihr Angebot war mir schon immer seltsam vorgekommen, aber jetzt … Der Traum war wirklich unheimlich gewesen, wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Meine Erinnerung begann glücklicherweise bereits zu verschwimmen, doch ein Bild stand mir noch immer deutlich vor Augen: Ich befand mich in einem dunklen Raum, in dem es wie beim Zahnarzt roch, und lag auf dem Rücken. Nein, eigentlich schwamm ich auf dem Rücken in einem Behälter, der mit einer nebligen Substanz gefüllt war, und hatte das dumme Gefühl, dass jeden Augenblick Dr. Frankenstein auftauchen und mir eine Elektrode ins Gehirn pflanzen würde. An der Decke über mir hingen altmodische Zirkel und verkorkte Glaskolben mit schimmernden Flüssigkeiten, die diesen Eindruck verstärkten.
    Außerdem wirkte alles blass und grau, farblos wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film.
    »Ich glaube, sie kommt zu sich, Meister«, sagte ein Mann irgendwo außerhalb meines Blickfeldes. Er klang aufgeregt.
    »So bald?«, entgegnete jemand deutlich Älteres, dessen Stimme an das Rascheln von Papier erinnerte.
    Ein faltiges Gesicht beugte sich über mich. Ich erkannte eisgraue Augen, die in Nestern aus Runzeln saßen, und einen bauschigen Bart, in dem etwas klebte. Feine, schwarz glänzende Spritzer, die sich in den silbrigen Haaren verfangen zu haben schienen …
    Das Klingeln unterbrach meine Gedanken.
    »Na endlich«, meinte Wiebke und sprang auf. »Ich dachte schon, die Stunde geht nie vorbei.«
    »Ja, ich auch«, stimmte ich halbherzig zu. Geistesabwesend stopfte ich meine Sachen in meinen Rucksack. Dann schlüpfte ich in meine neonfarbene Jacke, die in Wiebkes Augen einfach furchtbar war, weil ihre quadratische Form mich anscheinend noch kleiner wirken ließ, als ich ohnehin schon war. Man sah mir darin tatsächlich nicht unbedingt an, dass ich siebzehn und nicht dreizehn Jahre alt war, aber ich liebte sie, denn sie reichte mir bis fast zu den Knien und ich konnte die Hände problemlos in den überlangen Ärmeln verschwinden lassen. Zwei unschätzbare Vorteile, wenn man schnell fror.
    »Los, komm schon. Linus wartet am Schultor auf uns«, sagte Wiebke, drehte sich die schwarze Mähne zu einem Knoten und zog mich an einem der besagten Ärmel Richtung Ausgang, vorbei am Lehrerpult, wo Herr Bachmann gerade etwas im Klassenbuch notierte, was verdächtig nach dem Namen Flora Gerstmann aussah. Meine mündliche Note war heute wohl ins Bodenlose gestürzt.
    Ich nagte an meiner Unterlippe und versuchte, mit Wiebke Schritt zu halten, die erst langsamer wurde, als wir den ebenfalls dunkelhaarigen Jungen mit der Lederjacke erreichten, der am Rande des Schulhofs auf uns wartete. Lässig lehnte Linus sich gegen den Zaun und grinste uns über die Köpfe einer Horde von Mittelstufenschülerinnen hinweg an, die auffällig unauffällig in seiner Nähe herumlungerten.
    »Buongiorno, die Damen«, rief er und hielt uns einen Pizzakarton unter die Nase. »Einmal mit allem und extra Käse.« Hungrig griffen wir zu, um uns kauend auf den Weg in Richtung U-Bahn zu machen, denn wir wohnten alle drei fast am anderen Ende von Essen. Linus war Wiebkes Zwillingsbruder und ging in die Parallelklasse, weil die Eltern der beiden wollten, dass sie »eigenständige Persönlichkeiten entwickelten«.
    Tatsächlich waren die beiden einander so ähnlich, wie zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts es nur sein konnten. Nicht nur, dass sie das gleiche fein geschnittene Gesicht und die dazu passenden seidigen Wimpern besaßen. Sie lachten auch über die gleichen Witze, mochten die gleichen Dinge und waren schlicht unzertrennlich. Manchmal beschlich mich sogar das unheimliche Gefühl, dass sie gegenseitig ihre Gedanken lesen konnten, so wie jetzt, als Linus plötzlich auf mein Gesicht
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