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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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gleichzeitig, warum mir ausgerechnet das jetzt durch den Kopf ging.
    »Wer –«, stammelte ich.
    »Setzt dich erst mal hin, Engelchen«, sagte Christabel und legte mir eine Hand auf den Arm, die ich jedoch sofort abschüttelte.
    »Wer ist das?«
    »Das ist Marian Immonen, ein Austauschschüler aus Finnland. Er wird die nächsten Monate bei uns wohnen«, erklärte mein Vater und sah dabei recht unglücklich aus.
    Ich hingegen hatte das dumpfe Gefühl, mich verhört zu haben. Fremde durften unsere Wohnung niemals betreten. Das war eine goldene Regel und für meinen Vater und Christabel beinahe genauso wichtig wie das Alarmsystem. In all den Jahren unserer Freundschaft hatten sie es nicht einmal Wiebke erlaubt, uns zu besuchen. Krankhaft, wie gesagt. Aber ich hatte es akzeptiert. Seit meine Mutter nicht mehr bei uns lebte, waren wir ohnehin keine richtige Familie mehr, sondern nur noch eine chaotische Wohngemeinschaft. Ich hatte kaum je das Bedürfnis verspürt, dies jemandem auf die Nase zu binden.
    Doch jetzt beherbergten wir einen Austauschschüler?
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wo soll er schlafen?«
    »Ich bekomme ein Klappbett im Arbeitszimmer«, sagte Marian mit deutlichem Akzent und für meinen Geschmack ein wenig zu selbstsicher. Seine Stimme kam mir von irgendwoher bekannt vor.
    »Mit dir rede ich gar nicht«, beschied ich ihn und funkelte stattdessen meinen Vater und Christabel an. »Ich will sofort wissen, was passiert ist. Wieso ist er hier?«
    »Es ist ja nur vorübergehend«, sagte mein Vater.
    Ich schwieg zornig und wartete auf eine Erklärung, doch anscheinend konnte sich niemand dazu durchringen. Einen Moment lang hing die Stille zwischen uns wie Qualm, der einem die Luft zum Atmen nimmt. Selbst die Fische in den Aquarien an der Längsseite des Raumes schienen erwartungsvoll zu den Scheiben zu schwimmen.
    Christabel und mein Vater tauschten einen langen Blick, während Marian auf seine Hände starrte, als hätte er sich am liebsten in Luft aufgelöst. Auch ich wünschte mir sehnlichst, er wäre in diesem Augenblick irgendwo anders gewesen, im finnischen Wald oder so, aber nicht hier bei uns in Essen, wo meine Familie gerade am Rad drehte.
    In den bernsteinfarbenen Augen meines Vaters lag ein gequälter Ausdruck, als er schließlich den Kopf in die Hände stützte und seufzte. »Weißt du, das Problem ist, dass der Laden im Moment nicht besonders gut läuft. Als Gastfamilie bekommen wir etwas Geld und –«
    »Das glaube ich dir nicht«, unterbrach ich ihn und erschrak selbst darüber, wie harsch es klang. »Ich meine, das kann doch nicht dein Ernst sein. Seit Jahren lassen wir hier nicht einmal einen Handwerker rein und jetzt nehmen wir plötzlich einen vollkommen Fremden auf? Wenn wir wirklich Geld brauchen, warum verkaufst du nicht einfach ein paar von deinen eigenen Fischen, wenn die doch so wertvoll sind? Warum entlassen wir nicht Christabel?«
    »Flora!« Mein Vater war mit einem Mal sehr wütend. »Christabel gehört zur Familie.«
    »Ja, ich weiß. Tut mir leid«, sagte ich ein wenig kleinlaut, denn ich war mal wieder über das Ziel hinausgeschossen. Natürlich würden wir Christabel nicht entlassen. Sie war die schlechteste Haushälterin der Welt, aber ich liebte sie. Sie hatte mich praktisch großgezogen. (Na ja, eigentlich hatte ich mich selbst großgezogen, aber sie war immerhin dabei gewesen.)
    »Schon gut«, sagte Christabel und legte mir erneut ihre Hand auf den Arm. Dieses Mal ließ ich sie gewähren und tatsächlich tröstete mich die Berührung etwas. Allerdings nur bis zum nächsten halbherzigen Erklärungsversuch.
    »Versteh doch, Engelchen, es muss sein«, begann Christabel. »Und so schlimm ist es doch auch gar nicht. Ihr werdet bestimmt Freunde.«
    »Pah«, machte ich. Irgendetwas stimmte hier nicht, was wollten sie mir verheimlichen? »Ich bin kein Kind mehr, also sagt mir gefälligst, was los ist.«
    »Das haben wir gerade getan.«
    »Unsinn.« Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Was war nur los mit mir? Heute Morgen noch war alles wie immer gewesen. Dann hatte ich diesen komischen Traum gehabt, auf den ich mir auch jetzt noch keinen Reim machen konnte. Ich hatte Schatten gesehen, wo keine hätten sein dürfen, und nun kam ich nach Hause, um festzustellen, dass meine Familie plötzlich einen ihrer wichtigsten Grundsätze über den Haufen warf, ohne mir den wahren Grund dafür zu sagen.
    Meine Unterlippe begann
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