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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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bereits gefährlich zu zittern und so tat ich das einzig Richtige: Ich entschied mich zum Rückzug. »Ich will ihn hier nicht haben«, murmelte ich noch in Marians Richtung, dann stürzte ich hinaus in die Diele.
    Meine Zimmertür ließ ich mit einem Knall ins Schloss fallen.
    Anschließend warf ich mich auf mein Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen und begann zu schluchzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich ausgeweint hatte, besonders weil ich es damit gar nicht eilig hatte. Heiß rollten die Tränen über meine Wangen und bildeten feuchte Flecken auf meinem Kopfkissen. Ich ließ sie gewähren, zu viele Gedanken wirbelten hinter meinen geschlossenen Lidern umher. Ich war wütend. Und ich war verwirrt. Vor allem aber fragte ich mich, ob mein Leben heute tatsächlich auf mysteriöse Weise aus den Fugen geraten war oder ob ich schlicht einen psychischen Aussetzer durchlebte. Hatte ich mir vielleicht meinen Traum, die Schatten und den Jungen in unserem Wohnzimmer vor lauter Müdigkeit zusammenfantasiert? So recht glauben mochte ich das nicht.
    Andererseits: Hier in meinem Zimmer war alles wie immer. Mein Blick glitt über meinen stets penibel aufgeräumten Schreibtisch am Fenster, die tiefrot gestrichene Wand mit dem Bücherregal und meinen für ein Mädchen fast schon lächerlich kleinen Kleiderschrank (ich besaß eben nur das Nötigste). An der Decke über meinem Bett hing der einzige Raumschmuck, mit dem ich mich hatte anfreunden können: ein Mobile aus bunten Holzvögeln.
    Meine Mutter hatte es mir zusammen mit einem Entschuldigungsbrief vor Jahren aus Brasilien geschickt, wo sie jetzt mit ihrer neuen Familie lebte. Das hatte ich mir jedenfalls erfolgreich eingeredet, nachdem ich das Ding vor sechs Jahren auf einem Flohmarkt gekauft hatte. In Wahrheit hatte ich seit dem Tag, an dem meine Mutter uns verlassen hatte, nie wieder etwas von ihr gehört. Und die Vögel hatten kitschige Glupschaugen. Trotzdem konnte ich mich einfach nicht davon trennen. Es war absurd, aber ich betrachtete es als mein letztes Andenken an Mama.
    Jemand klopfte sacht an der Tür. »Engelchen?«, fragte Christabel. »Darf ich reinkommen?«
    Ich gab keine Antwort, zog mir stattdessen die Bettdecke über den Kopf und schloss die brennenden Augen. Etwa eine Viertelstunde lang bemühte ich mich einzuschlafen. Immerhin fühlte ich mich auch jetzt noch todmüde, meine Glieder waren so schwer, als steckten Hände und Füße in Betonkübeln. Bestimmt würde ich klarer sehen, wenn ich ein wenig ausgeruhter wäre.
    Doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen.
    Ich hörte ein kratzendes Geräusch an der Wand hinter dem Kopfende meines Bettes, dort, wo sich das Arbeitszimmer meines Vaters befand. Anscheinend stellten sie tatsächlich das Klappbett auf. Sie machten also Ernst.
    Noch immer wollte ich es nicht glauben.
    Langsam bekam ich Kopfschmerzen. Seufzend warf ich die Decke zurück, unter der es viel zu stickig geworden war, atmete tief durch und stand auf. Zuerst setzte ich mich an den Schreibtisch und kramte das kleine Heft heraus, in dem ich meine Hausaufgaben notierte. Für morgen standen allerdings nur ein paar Matheaufgaben an. Die hatte ich gestern schon gemacht.
    Da fiel mir der Korb mit der Bügelwäsche ins Auge und ich begann, die Socken herauszusuchen und zu kleinen Bällen zusammenzufalten. Natürlich wäre das eigentlich Christabels Aufgabe gewesen, genauso wie das Kochen und Putzen. Obwohl Christabel in ihrer britischen Heimat angeblich eine der besten Schulen für Hauspersonal besucht hatte, schien sie sich zu keiner dieser Tätigkeiten in der Lage zu fühlen. Stattdessen begleitete sie meinen Vater beinahe überallhin und interessierte sich auffallend für Kampfsportarten. Mein Vater, der das anscheinend in Ordnung fand, hatte so viel mit dem Laden zu tun, dass ich bereits seit meiner Kindheit den größten Teil der Hausarbeit übernahm.
    Umso erstaunter war ich deshalb, als es eine Dreiviertelstunde später (ich legte gerade Handtücher zusammen) erneut an meiner Tür klopfte. »Das Abendessen ist fertig«, sagte mein Vater. »Kommst du bitte?«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Doch, den hast du bestimmt.«
    Hatte ich auch. Einen Bärenhunger sogar, wie mir jetzt auffiel. Aber ich hatte heute auch erst einen Apfel und ein einsames Stück Pizza gegessen. Widerwillig schlurfte ich zur Tür und folgte meinem Vater in die Küche, bemüht, möglichst beleidigt auszusehen.
    Marian und Christabel saßen bereits am Esstisch,
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