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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten
Autoren: Mechthild Gläser
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Christabel mit deutlich schlechtem Gewissen, Marian mit einem undurchdringlichen Ausdruck in den Augen. Er wirkte jetzt doch ein wenig älter, als ich zunächst angenommen hatte, sein breiter Kiefer verlieh seinem Gesicht etwas Kantiges, das mir zuvor nicht aufgefallen war.
    Auf dem Tisch standen Schüsseln mit Nudeln, Tomatensoße und geriebenem Parmesan. Ich ließ mich auf meinen Platz fallen. »Wer hat gekocht?«, fragte ich teilnahmslos.
    »Das war ich«, sagte mein Vater, der mittlerweile ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Ein Herz für Guppys« trug, und setzte sich neben mich. Sichtlich stolz reichte er mir die erste Schüssel und tatsächlich schmeckte es gar nicht so schlecht.
    Trotzdem wurde das Abendessen zu einer eher schweigsamen Angelegenheit, hauptsächlich deshalb, weil ich die meiste Zeit auf meinen Teller starrte. Christabel versuchte ein paarmal, mich in ein Gespräch zu verwickeln, aber sowohl ihre Nachfragen zu meinem Schultag als auch ihre vorsichtigen Vermittlungsversuche (»Marian kommt aus Südfinnland, wir haben vorletztes Jahr quasi bei ihm nebenan Urlaub gemacht.«) speiste ich mit einsilbigen Antworten ab.
    Die meiste Zeit über war nur das Klackern von Christabels Fingernägeln zu hören, die so lang waren, dass es einiges an Geschicklichkeit erforderte, damit eine Gabel zu halten, und spitz genug, um jemanden damit aufzuschlitzen. Es waren natürlich keine echten Nägel, sondern diese Gelversionen aus dem Nagelstudio, also viel härter als normale Fingernägel. Und damit eindeutig auch gefährlicher.
    Überhaupt war Christabel schon immer diejenige in unserer Familie gewesen, die die Beschützerrolle einnahm. Ich erinnerte mich noch genau an unseren Urlaub auf Mallorca vor fünf Jahren, in dem ein Taschendieb mit dem Portemonnaie meines Vaters abgehauen war. Christabel hatte sich den Typen nicht nur geschnappt und unser Eigentum zurückgeholt, sie hatte ihn auch ganz schön … vermöbelt. Unser gesamtes Geld war in dem Portemonnaie gewesen, plus der Ausweise von meinem Vater und mir. Ich war ziemlich geschockt gewesen, als ich sah, wie sie sich auf den jungen Mann stürzte, der nicht mit den Kampfkünsten unserer ältlichen Haushälterin gerechnet hatte. Im Handumdrehen hatte sie ihm die Schulter ausgekugelt und ihn außer Gefecht gesetzt. Der arme Kerl hatte vor Schmerz laut aufgeschrien. Obwohl ich kein Freund von körperlicher Gewalt war, konnten wir nur froh sein, dass Christabel dabei gewesen war. Mein Vater wäre mit der Sache vollkommen überfordert gewesen. Der brachte es noch nicht einmal über sich, eine Mücke zu erschlagen.
    Jetzt machte Christabel allerdings eher einen nervösen als einen aggressiven Eindruck. Immer wieder wanderte ihr Blick zwischen Marian und mir hin und her. Auch wenn ich sie kaum ansah, spürte ich, wie sie mich beobachtete. Gerade so, als warte sie nur darauf, dass ich mich mit diesem dämlichen Austauschschüler, den sie angeschleppt hatte, anfreundete. Aber den Gefallen würde ich ihr nicht tun.
    Hastig schlang ich die Nudeln in mich hinein. Dann hatte ich es endlich geschafft, meine Portion zu bewältigen. Ich war zwar noch nicht ganz satt, aber einen Nachschlag zu nehmen und noch länger hier sitzen zu bleiben, kam nicht infrage. Dafür war ich eindeutig noch viel zu wütend. Ohne darauf zu warten, dass die anderen aufgegessen hatten, stand ich auf.
    »Ich gehe schlafen«, verkündete ich und war schon fast aus der Tür, als ich plötzlich stockte. Nein! Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte ich jetzt endgültig den Verstand verloren? Ich wirbelte herum und starrte zur Spüle herüber.
    Aus dem Augenwinkel hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. Eine Bewegung, wo keine hätte sein dürfen.
    Einen Schatten.
    Verfolgten mich diese Dinger jetzt etwa schon bis nach Hause? Ich blinzelte, doch der Platz vor der Arbeitsfläche war leer.
    Meine Güte! Sollte ich meinen Vater bitten, mich in eine psychiatrische Klinik zu bringen? Ich war mir sicher, dass da gerade etwas gewesen war, etwas oder jemand. Direkt neben der Spüle. Und es hatte einen Schritt in meine Richtung gemacht. Ich spürte, wie sich eine steile Falte auf meiner Stirn bildete, und fuhr mir mit der Hand über die Augen. Zumindest einen Sehtest sollte ich wohl mal wieder machen. Den würde ich für den Führerschein ja ohnehin in ein paar Monaten brauchen. Bei dem Gedanken, demnächst blind oder geistesgestört in der Fahrprüfung zu sitzen, musste ich grinsen und erschrak im selben Augenblick,
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