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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat
Autoren: Rowland
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Prolog

    I
    n klassischen Gedichten und Theaterstücken erzählen reine und tugendhafte Menschen , dass Häuser der Sünde und Fleischeslust , in denen Kurtisanen Freiern ihre Gunst gewähren , die Schandflecken eines jeden Ortes sind . Zugleich sind sie ein notwendiges Übel , denn ließe man diese Häuser schließen , würden die Sündhaften und Zügellosen ihren Begierden überall freien Lauf lassen .«
     
    Aus dem dreiundsiebzigsten Abschnitt der Dekrete des ersten Tokugawa-Shōgun.
     
    Im Nordwesten der Hauptstadt Edo, durch Sümpfe und ausgedehnte Reisfelder wie eine Insel vom Umland getrennt, lag Yoshiwara. An diesem kalten Winterabend funkelte es wie ein kostbares Geschmeide in der Dunkelheit der umliegenden Landschaft. Der Widerschein der unzähligen bunten Lichter des Vergnügungsviertels bildete am schwarzen Himmel eine helle, rauchige Kuppel, die sich über der hohen Mauer Yoshiwaras wölbte, die wiederum von einem Wassergraben umschlossen war, auf dessen Oberfläche sich der silberne Schein des Mondes spiegelte. Hinter diesem Schutzwall, in den hellen Straßen und Gassen Yoshiwaras, brodelte trotz der späten Stunde das Leben. In Teehäusern und Essstuben, Gasthäusern und Bordellen, von denen die Straßen gesäumt waren, herrschte noch immer reger Betrieb. Kurtisanen, in leuchtend bunte Kimonos gekleidet, saßen hinter den vergitterten Fenstern der Freudenhäuser und lockten die Männer, die auf der Suche nach Vergnügungen durch die Straßen schlenderten, mit aufreizenden Gesten und anzüglichen Rufen. Fahrende Händler boten Tee und Reisklöße feil, und ein Ausrufer versuchte, Kunden in einen Laden zu locken, in dem Gemälde der schönsten Prostituierten angeboten wurden.
    Nur in Yoshiwara war die Prostitution gesetzlich erlaubt. Um die Gebote des Anstands zu wahren und die öffentliche Moral zu schützen, lag das Vergnügungsviertel einen mehrstündigen Ritt von der Stadt Edo entfernt. Männer aus sämtlichen Gesellschaftsschichten kamen hierher, um zu trinken, zu feiern und die Dienste der Kurtisanen in Anspruch zu nehmen, von denen viele als junge Mädchen von ihren verarmten Familien in die Prostitution verkauft worden waren; andere hatte man zur Strafe für ein Verbrechen dazu verurteilt, in einem der vielen Bordelle Yoshiwaras den Männern zu Willen zu sein.
    Wegen der späten Stunde und des kalten Wetters hatten viele Besucher des Vergnügungsviertels sich bereits von den Straßen in die Gebäude begeben, um zu speisen, Sake zu trinken und den verschiedensten Vergnügungen zu frönen. In Bordellen grölten betrunkene Besucher anzügliche Lieder; in Esslokalen spielten Musikanten für Gäste auf, die in prächtigen Gemächern an reich gedeckten Tafeln speisten, während in stillen, abgeschiedenen Kammern die Paare einander in den Armen lagen.
    Der Mann, der sich allein in einem Zimmer eines der Bordelle an der Ageyachō-Straße aufhielt, nahm von alldem kaum etwas wahr. Im Nebel der Trunkenheit lag er regungslos auf einem Bett, das unter ihm zu schwanken schien wie ein Schiff auf stürmischer See. Aus dem Gesellschaftszimmer im Erdgeschoss drangen Gesang, die Klänge einer Samisen und fröhliches Lachen in misstönenden, an- und abschwellenden Melodien zu ihm in den ersten Stock. Durch seine halb geschlossenen Lider sah der Betrunkene rote Lichter, die zuckten und blitzten und sich rasend schnell drehten wie Lichtspiegelungen auf einem Wasserstrudel. Am Rande seines Gesichtsfeldes nahm der Mann nebelhaft ein Landschaftsgemälde wahr, auf dem Gärten und Wiesen zu erkennen waren. Der Betrunkene stöhnte, von heftiger Übelkeit geplagt.
    Wo bin ich?, fragte er sich benommen. Wie bin ich hierher gekommen?
    Der Mann erinnerte sich verschwommen an einen Ritt über winterliche Felder … an Trinkschalen, die mit heißem Sake gefüllt waren … an das Gesicht einer Frau, die den Blick züchtig gesenkt hatte … ein wunderschönes Gesicht, strahlend im warmen Lampenlicht … an ein leises Gespräch voller Schmeicheleien, Verlockungen und Versprechen … und an die lustvolle Vereinigung ihrer Körper, voller Wildheit und ungezügelter Leidenschaft, bis zum überwältigenden sexuellen Höhepunkt …
    Danach hatte er wieder heißen Sake getrunken, erinnerte der Mann sich verschwommen. Eigentlich vertrug er viel Alkohol; deshalb konnte er nicht begreifen, wie ein paar Schalen Reisschnaps ihn so betrunken machen konnten, dass er nun das Gefühl hatte, sterben zu müssen. Eine eigenartige Taubheit breitete
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