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0905 - Die Anstalt

0905 - Die Anstalt

Titel: 0905 - Die Anstalt
Autoren: Adrian Doyle
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1.
    1890, ein Gefängnis am Ufer der Themse
    Rawlings hustete und setzte seinen Weg fort durch das Labyrinth der dreitausend Gänge, die das Millbank Penitentiary zu bieten hatte.
    Die Wärter waren angehalten, nicht immer dieselbe Runde zu drehen. Das wiederum führte dazu, dass man sich selbst nach etlichen Dienstjahren im Millbank noch verlaufen konnte.
    Rawlings verwünschte Direktor Pallister, von dem die Weisung kam. Vor sich hinbrütend schlurfte er weiter. Zellentür um Zellentür klapperte er ab. Manchmal blieb er kurz stehen, um die Klappe zu öffnen, durch die ein Kontrollblick auf den Häftling möglich war, aber meist trottete er nur schwerfällig vorbei, achtete nicht auf die Selbstgespräche, das Jammern und Schreien, das aus den Zellen drang. Die Jahre hatten ihn abgestumpft. Die Schicksale der Gefangenen interessierten ihn nicht mehr, anders als vielleicht noch in der Anfangszeit. Die Häftlinge interessierte schließlich auch nicht sein Kram.
    Weder bei Tag noch bei Nacht wurde es jemals wirklich still im Millbank. Die schiere Zahl von Häftlingen verhinderte dies. Irgendjemand schob immer Frust, hatte Schmerzen oder tickte aus. Und wenn der Typ in der Nachbarzelle Radau machte, dauerte es meist auch nicht lange, bis andere einstimmten, sich über den Lärm beklagten oder wüste Morddrohungen gegen den Störenfried hinausposaunten.
    Mord war im Millbank an der Tagesordnung. Glücklicherweise traf es aber meist Gefangene untereinander. Die Wenigsten waren sich grün. Und am Schlimmsten waren die Kerle, die nach längerer Isolationshaft zum ersten Mal wieder mit anderen zusammenkamen.
    Besonders, wenn sie im Gefängnishof spazieren gehen durften. Im Freien rasteten die meisten aus.
    Aber dafür gab es Knüppel.
    Rawlings grunzte. Er war kein verdammtes Arschloch, aber auch kein Menschenfreund. Das Leben war hart. Der Job war beschissen. Wie sollte er da noch Verständnis oder gar Mitgefühl für die Bastarde aufbringen, für die das Millbank zur Endstation geworden war?
    An der nächsten Gangbiegung blieb er stehen und malte wieder einen Kreidekreis. Gedämpft drangen Stimmen zu ihm vor. Eine schwere Mittelohrentzündung hatte ihn vor zwei Jahren halb taub werden lassen - draußen ein Nachteil, hier drinnen nicht selten ein Segen.
    Er wollte sich aufrichten, und seine Wirbel knackten auch schon, als ihn ein plötzlicher Schwindel überkam. Ein so starker Schwindel, dass Rawlings sich vergeblich auf den Beinen zu halten versuchte.
    Er ruderte mit den Armen, konnte den Sturz aber nicht verhindern. Es klirrte, als ihm die Lampe entglitt und ihr gläserner Windschutz zersplitterte. Hart schlug Rawlings auf seine Kniescheiben. Seinen Oberkörper konnte er mit den Händen abfangen, aber die Knie… Himmel! Vor Schmerz stiegen ihm Tränen in die Augen.
    Rings um ihn war es plötzlich finster wie in einem Kohlensack. Fluchend tastete Rawlings in seiner Jackentasche nach einem Schwefelholz. Als er fündig wurde, riss er es am Boden an. Es zischte, als sich der Kopf des Stäbchens entzündete. Im flackernden Schein fand Rawlings die zerbrochene Lampe, deren Docht ausgegangen war. Aber das Schwefelholz ließ sie neu entflammen. Sie würde ihm den Weg leuchten, er musste sie nur ein wenig gegen den Luftzug abschirmen.
    Mühsam rappelte er sich auf.
    Was war passiert? Außer beim Zechen hatte er noch nie unter einem so starken Schwindelgefühl gelitten. Alles hatte sich gedreht. Er hatte geglaubt, in einen tiefen Abgrund zu stürzen, als hätte sich unter seinen Füßen eine Falltür geöffnet…
    Eine Weile blieb er stehen und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Es gelang. Aber er war schweißnass, als er seinen unterbrochenen Weg fortsetzen wollte.
    Wollte.
    Doch zuvor fiel sein Blick auf die Stelle, wo er den Kreidekreis gemalt hatte, kurz bevor er zu Boden gegangen war.
    Die Wand war leer. Nicht einmal ein Strich Weiß war daran zu sehen, obwohl Rawlings geschworen hätte, die Markierung bereits angebracht zu haben.
    Kopfschüttelnd kramte er den Stumpen aus seiner Tasche und wollte erneut ansetzen. Doch er hielt inne, lauschte.
    Unglaublich!
    Diese… Stille!
    Solche Ruhe hatte er im Millbank noch bei keiner seiner Runden erlebt. Es war, als würden alle Häftlinge gleichzeitig schlafen - oder zumindest friedlich und leise in ihren Zellen verharren.
    Rawlings wusste nicht, warum, aber plötzlich fröstelte ihn. Er leckte sich über die Lippen und beschloss, sich zuerst zu vergewissern, dass er
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