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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns
Autoren: Peter S. Beagle
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∗ Erstes Kapitel ∗
    Es kam ihr so vor, als wollte die Straße kein Ende nehmen. Der späte Frühling war so heiß geworden, daß er ihr fast den Atem nahm, und Joeys Büchertasche schlug an die klebrige Stelle zwischen ihren Schultern, während sie an Tankstellen, Parkplätzen,
    Schönheitssalons, Einkaufspassagen voller Videotheken, Karateschulen, Ökoläden und Kinopalästen vorübertrottete – die sich nach ein paar Blocks stets wiederholten, gleichförmig wie die kleine Melodie, die Joey unablässig vor sich hin pfiff. Man sah weder Bäume noch Gras. Man sah keinen Horizont.
    An einer Ecke zwängte sich ein winziges griechisches Restaurant zwischen ein Immobilienbüro und einen Schuhmarkt. Joey stand einen Moment in der Tür und schaute sich um. Dann wandte sie sich ab und ging einen halben Block weiter bis zu einem mit Gitarren, Trompeten und Geigen vollgestopften Schaufenster. In verblaßten goldenen Lettern stand dort »PAPAS’ MUSIKLADEN – VERKAUF UND REPARATUR«. Joey blinzelte ihr Spiegelbild an, schnitt dem eckigen Abbild der Dreizehnjährigen eine Grimasse, strich das Haar glatt, zog fest an der schwarzen Tür und trat ein.
    Nach dem grellen Sonnenlicht draußen auf der Straße erschien es ihr in dem kleinen Laden so kühl und dunkel wie unter der Wasseroberfläche, wenn sie im Sommerlager tauchte. Es roch nach frischem Sägemehl, nach altem Filz, nach Metall und Holzpolitur.
    Unwillkürlich mußte Joey niesen. Der grauhaarige Mann, der gerade ein neues Blättchen in ein Saxophon einsetzte, sagte, ohne aufzusehen: »Miss Josephine Angelina Rivera. Immer noch allergisch gegen Musik.«
    »Ich bin allergisch gegen Staub«, sagte Joey laut. Sie zerrte ihren Rucksack herunter und schleuderte ihn auf den Boden. »Wenn Sie in diesem Dreckloch alle paar Jahre mal saugen würden …«
    Der Mann schnaubte heftig. »Oh, wir haben ja heute gute Laune. Etwa schlecht drauf?« In seiner heiseren Stimme schwang etwas mit, weniger ein Akzent… eher der Nachhall einer anderen Sprache, halb vergessen. »In der Zeitung müßten sie jeden Morgen eine Rivera-Vorhersage bringen, wie fürs Wetter.« John Papas war sechzig oder fünfundsechzig, klein und untersetzt, die dreieckigen, dunklen Augen traurig über hohen Wangenknochen, mit breiter, mächtiger Nase und zottigem, grauschwarzem Schnauzbart. Er legte das Saxophon in den Kasten zurück. »Wissen deine Eltern, daß du hier bist? Los, sei ehrlich.«
    Joey nickte. John Papas schnaubte noch einmal. »Natürlich. Ich ruf mal deine Mutter an und frage, ob sie eigentlich weiß, wieviel Zeit du in diesem Dreckloch verbringst. Sie wird bestimmt nicht begeistert sein. Ich hab’ genug Probleme, da fehlt mir gerade noch der Ärger mit deiner Familie. Gib mir eure Telefonnummer, dann ruf ich sie mal an, hm?«
    »Dann rufen Sie aber später an«, murmelte Joey. »Die sind selten zu Hause.« Sie setzte sich rittlings auf einen Stuhl, legte den Kopf auf die Lehne und schloß die Augen.
    John Papas nahm eine verbeulte Klarinette, untersuchte scheinbar eingehend deren Klappen, bevor er weiterredete. »Also. Wie lief er denn nun, der große Wissenschaftstest?«
    Joey zuckte die Schultern, ohne den Kopf zu heben. »Furchtbar. Hatte ich mir ja schon gedacht.« John Papas spielte eine Tonleiter, knurrte verstimmt und versuchte den gleichen Lauf in einer tieferen Lage. Joey sagte: »Mir gelingt nichts. Überhaupts nichts. Ich vermassel’ einfach alles. Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Sport… Ich werde wahrscheinlich noch in Volleyball durchfallen. Sogar mein blöder Bruder ist besser in der Schule als ich.« Sie versetzte der Stuhllehne einen Hieb, machte die Augen wieder auf und fügte hinzu: »Tanzt auch besser. Und sieht besser aus.«
    »Mir bist du eine große Hilfe«, sagte John Papas. Joey wandte sich ab. »Du denkst dir Musik aus. Möchte wissen, ob dein Sportlehrer und dein hübscher Bruder das auch können.« Als sie nicht antwortete, fragte John Papas: »Jetzt sag doch mal: Sind wir heute zum Unterricht da, um herumzusitzen und zu grübeln oder um einem alten Mann etwas zur Hand zu gehen? Was davon?«
    Joeys Gedanken schwebten aus weiter Ferne heran. Sie wandte sich ab, murmelte: »Wahrscheinlich alles.«
    »Alles«, wiederholte John Papas. »Okay, sehr schön. Ich geh’ jetzt rüber in Provotakis’ Dreckloch und genehmige mir das, was er diese Woche ›Mittagessen‹ schimpft. Spiel’ vielleicht eine Partie Schach mit ihm, falls er nicht zu sehr damit beschäftigt ist,
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