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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Autoren: Thomas Gsella
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DER MEMOIREN ERSTER TEIL
    Von meinen ersten vier Jahren weiß ich nichts, aber als ich fünf war, machte ich meine Eltern tot. Natürlich nur im Spiel. Damals war ich immer noch in der Trotzphase und überredete sie mit stundenlangem Strampeln und Schreien dazu, sich bäuchlings auf zwei Skateboards zu legen und ihre Köpfe in den Backofen zu stecken. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich tüchtig vorgeheizt hatte, wurden krank und ohnmächtig und mussten mit Tatütata ins Krankenhaus. Natürlich nur im Spiel. Ich war der Krankenwagen und schob sie auf den Skateboards in mein Spielzimmer. Die Höhle unterm Hochbett war die Intensivstation.
    Natürlich nur im Spiel. Ich hatte die Höhle schon Tage vorher mit Kissen und Decken ausgelegt und mir auch allerlei Heilsalben ausgedacht, Zahnpasta, Knete, in Wasser gelöstes Klopapier und so weiter. Das tat ich alles drauf, aber die beiden vorher von den Skateboards zu kippen, war ganz schön anstrengend. Dann krabbelte ich in mein Kuschelhochbett. In der Nacht erwachte Papa und schrie Aua, sodass ich fürchtete, er könne Mama wecken. Schnell kriegte er eine Cortisonspritze in den Oberschenkel. Natürlich nur im Spiel. In echt nahm ich ein Mikadostäbchen, und Papa schlief sofort wieder ein. Am frühen Morgen kam der Onkel Doktor, untersuchte die Patienten und schüttelte resigniert den Kopf. Dafür hatte ich mein hölzernes Sandmännchen extra in ein weißes Handtuch gewickelt.
    Die Beerdigung war supertraurig. Alle meine Verwandten und Freunde waren gekommen, Fritzi der Eisbär, der Dino Knuffi, Sandmännchen, die Katze Elisabeth, Frosch, Tiger, Pu der Bär, Ferkel, Eule, Klein Ruh, Eisbär II und Pferd. Alle kamen mit dem Taxi von weit her, aus Indien, Borbeck, Amerika, Australien und Wanne-Eickel, wir sind eine polyglotte Sippschaft, und es war ein kühler, regennasser Spätherbsttag. Alle hatten ihre Schirme aufgespannt, die Lodenmantelkrägen hochgeschlagen und äußerten ihr tiefempfundenes Beileid in den Sprachen der Völker. Natürlich nur im Spiel. Die Beerdigungsgesellschaft hatte ich Tage vorher mit Klebe am Hochbettbalken aufgehängt und ausgerechnet meinen besten Freund Tiger beinahe vergessen, aber der schrie dann plötzlich aus dem Kuscheltierkorb: »Hallo, ich will a-auch!« Als ich ihm sagte, zur Trauermahlzeit seien inklusive meinem aber nur dreizehn Plätze reserviert, schlug er vor, den Dino rauszuschmeißen. Das war eine gute Idee, weil Knuffi eh ein Arm fehlte.
    Der Pastor war ein gelber Legostein mit aufgeklebten Staubfusseln und hatte eine bewegende Rede vorbereitet. Natürlich nur im Spiel. In meinen Kinder-Cassettenrecorder konnte man reinsprechen, und Mama hatte gesagt, wenn man gleichzeitig den roten Knopf drückte, käme ein roter Zauberer geflogen, und der zauberte, dass das, was ich sagte oder sang, in den Cassettenrecorder ging. Wenn ich dann den grünen Knopf drückte, käme ein grüner Zauberer und holte es genau so wieder raus. Aber gerade als ich auf den grünen Knopf drücken und die Trauerrede »Alle meine Entchen schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See, Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh« wieder rauszaubern wollte, hörte ich Gepolter im Treppenhaus, und ein Polizist rief hysterisch: »Aufmachen, oder wir brechen die Tür auf!«
    Natürlich nur im Spiel. In echt hatte ich statt der Pastortrauerrede »Alle meine Entchen« schon vor Tagen den letztzitierten Polizeibefehl aufgenommen, bewusst verzerrt sogar, aber Angst kriegte ich wie geplant trotzdem. Ich hatte meine Eltern totgemacht, ich war fünf Jahre alt und durfte nicht allein über die Straße, da war guter Rat teuer.
    Zum Glück hatte ich vorgesorgt. In Sekundenschnelle schlüpfte ich in mein Karnevalskostüm, war nun ein gefährlicher Löwe und floh auf meinem Bobby-Car nach Bremen zu Oma und Opa. Natürlich nur im Spiel. Bremen war unterm Küchentisch, den ich schon vor Tagen mit vom Tisch runterhängenden Couchdecken und Handtüchern zum freiwilligen Exil umgebaut hatte, zu einem Unterschlupf par excellence. Mein Elefant war Opa, und Oma, mein roter Eierbecher, stand auf dem Kopf und flüsterte, damit der Polizist es nicht hörte: »Schatz, du hast seit zwei Tagen nichts gegessen und musst Hunger haben. Dreh mich um, hex hex!«
    Das passte gut, ich war tatsächlich hungrig, und als ich Oma umdrehte, purzelten, hex hex!, Rohkostgemüse, Vitaminpastillen und frischer Blattspinat an Gorgonzola heraus. Natürlich nur im Spiel. In echt waren es sieben
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