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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Autoren: Thomas Gsella
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schmutzig, zerknittert, von Wind und Wetter angegraut, vielleicht ist längst ein Auto drübergefahren, oder ein Hund hat reingeschifft in dieses arme Schälchen mit den dreivier Pommes drin und den Resten von Ketchup und Mayonnaise; und also dieses Kind, achtneun Jahre alt vielleicht und nicht mal abgerissen oder sonstwie drittweltlich geschlagen: Wie es die Schale vom Boden aufnimmt und sie ausschleckt samt den Pommes, sie in seinen Kindermund befördert und brav durchkaut und begeistert runterschluckt, die kalten Pommes runterschluckt und diesen tagealten, längst lehmig und brockig gewordenen Mörtel aus Ketchup und weißgelb vergorenen Mayonnaisedünen, ja, ich seh’ es vor mir, dieses Kind, es macht dies täglich, froh über jeden neuen Fund, und zum Nachtisch gibt es, wenn vorhanden, alte Straßenkaugummi, von anderen ausgespuckte Bubblegums, die im Mund des Kindes zu neuer Feuchtigkeit und Frische finden, man schreibt die Jahre 1967 bis etwa 1970, und dies Kind, dieser desaströse und unfassliche Saubatzen und Schweinemagen ist natürlich kein anderer als der kleine, wenn auch schon damals irgendwie großartige Gsella, Thomas, ich.
    Lieblingssatz
    Welche Petitesse mir aus Versehen wieder einfällt, jetzt, da das abgetretene Millennium hofft, die Furie des Vergessens und galanten Schweigens möge sich zumindest über seine eher peripheren Rotzblödheiten breiten: ist ein kleiner Nebensatz aus dem Jahre 1990, dem landesweit startenden EU -Standortgezeter untergemischt vom damaligen und womöglich weiterhinnigen Dortmunder OB Günther Samtlebe, der ausgerechnet diesen seinen grauen Häuserhauf in einem furiosen Anfall als »Sport- und Schach-, Wissenschafts- und Wirtschaftszentrum« und » EU -Metropole«, respektive »Oberzentrum« imaginierte, um seinen scheint’s akuten Hirninfarkt dann noch wie folgt ins Wort zu meißeln: »Die Menschen in Europa müssen das Gefühl haben, Beziehungen zu Dortmund zu besitzen.«
    O himmlische Knalltüte. Aber recht behält der Mann halt doch; vgl. etwa mich.
    Altersplanung
    Weil Essener Friseurläden sich inzwischen »Cuthaarstrophe«, »Haare up« und »Hare Christina« nennen, zog ich kürzlich nach Aschaffenburg, wo ich meine Hare nun so lange wachsen lasse, bis sie mir vom Kopf upstehen. Etwa zwanzig Jahre mag dies dauern. Dann kaufe ich mir einen Langhardackel, nehme den Nachnamen »Mann« an, ziehe weiter in jene Stadt, in der ein »Hair und Hund« aufmacht, lasse uns beide scheren und ziehe dann wieder zurück nach Essen, wo mich dann zwar immer noch kein Schwein kennt, ich aber die Wolle, wie der Einwohner sagt, gewinnbringend an Wollwort f(h)airkaufe. Irgendwelche Einwände?

SHINING IN OSTTIROL
    Im Juli 1969 befand sich der elfjährige Kinderkirchenchorsolist und eifrige Ministrant G. auf dem Weg in die Pfarrjugendferien. Kurz vor Mitternacht hatte der aus Hamburg kommende Eilzug München passiert, war in Rosenheim um zwei Waggons verkürzt worden und stieg nun, parallel zum Inn, der zwischen Mangfall und Kaiserhöhe eine spitze Westkehre beschreibt, die Bayerischen Alpen empor Richtung Innsbruck. Von da aus, aber auch das wusste G. nicht, ging es weiter in die Zillertaler Alpen, hoch zum Brenner, dann südwärts in die Hohen Tauern und schließlich, vorbei an Sankt Peter und dem schneetragenden Hochgall (3430 Meter), ins Osttiroler Zielörtchen Sankt Jacob.
    Die Tür des Schlafabteils sprang auf. Mit zwei schnellen Schritten fegte Weinhold, katholischer Jugendpfleger in Diensten der Essener Pfarrei Herz Jesu, durch den Mittelgang und tippte Stefan »Rotze« Mies, der mit dem Oberkörper aus dem Fenster hing und dem nachtkühlen Fahrtwind froh zerzaust entgegenbrüllte, auf den Rücken. Die übrigen fünf Anwesenden, unter ihnen G. und sein älterer Bruder Bernd, erstarrten, pressten die Knie an den Bauch und versuchten, ihre Köpfe zwischen hochgezogenen Schultern zu verstecken. Rotze, von der plötzlichen Stille alarmiert, wandte sich um. Mit halber Kraft, die ganze hätte töten müssen, schlug ihm der Jugendpfleger ins Gesicht.
    Rotze schrie zuerst, dann weinte er, dann rieb er sich den linken Kiefer und glotzte Weinhold an. Groß und stark war der. Und dick. Seine Arme waren breiter als Rotzes Oberschenkel. Als ein falsches Grinsen Weinholds rundes Speckgesicht ins Monströse verzerrte, hütete sich Rotze, es zu erwidern. Rotze wartete.
    »Hoffe mal, das reicht«, sagte Weinhold, zog das Abteilfenster mit Wucht herunter und drehte sich zur Tür. Das Licht
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