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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Autoren: Jean Kwok
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Prolog
    I ch bin mit einem Talent auf die Welt gekommen. Keinem tänzerischen oder komödiantischen Talent oder etwas ähnlich Gefälligem. Nein, ich hatte immer schon ein Händchen für die Schule. Alles, was dort gelehrt wurde, lernte ich schnell und ohne große Mühe. So als wäre die Schule eine riesige Maschine und ich ein Zahnrad, das perfekt in diese Maschine passte. Was nicht heißen soll, dass mir der Unterricht immer leichtfiel. Als Mama und ich nach Amerika zogen, sprach ich kaum ein Wort Englisch und hatte lange Zeit damit zu kämpfen.
    Es gibt ein chinesisches Sprichwort, in dem es heißt, dass das Schicksal aus Winden besteht, die von allen Seiten durch unser Leben blasen und uns die Pfade der Zeit entlangtreiben. Willensstarke Menschen können gegen den Sturm ankämpfen und so vielleicht ihren eigenen Weg wählen, während die Schwachen dorthin gehen müssen, wohin der Wind sie treibt. Ich selbst würde sagen, dass ich weniger von Winden getrieben, als von der Macht meiner eigenen Entscheidungen vorwärtsgezerrt wurde, während ich mich eigentlich die ganze Zeit nach dem sehnte, was ich nicht haben konnte. Und als endlich alles, was ich mir je gewünscht hatte, in greifbare Nähe gerückt schien, traf ich eine Entscheidung, die die Flugbahn meines restlichen Lebens für immer veränderte.
    Von meinem Standort vor dem Schaufenster des Brautmodengeschäfts aus sehe ich das kleine Mädchen still zu Füßen
der Ankleidepuppe sitzen, die Augen zugekniffen, umschlossen von den schweren Falten der herabfallenden Stoffbahnen. Ich denke: Das ist kein Leben, das ich für mein Kind wollte. Ich weiß genau, wie es laufen wird: Sie verbringt schon jetzt ihre gesamte Zeit nach der Schule im Laden und erledigt kleinere Aufgaben wie das Sortieren von Glasperlen; später wird sie lernen, von Hand zu nähen und dann mit der Nähmaschine, bis sie schließlich einen Teil der Stick- und Feinarbeiten übernehmen kann. Und dann wird auch sie ihre Tage und Wochenenden über endlose Meter Stoff gebeugt verbringen. Für sie wird es keine Besuche bei Freunden zum Spielen geben, keinen Schwimmunterricht, keine Sommerferien am Strand, überhaupt nicht viel mehr als den unablässigen Rhythmus der Nähnadel.
    Aber dann, als ihr Vater hereinkommt, blicken wir beide auf, und nach all den Jahren und allem, was passiert ist, bäumt sich mein Herz in meiner Brust immer noch auf wie ein verwundetes Tier.
    War ich jemals so schön wie sie? Es gibt fast keine Fotos von mir als Kind. Wir konnten uns keine Kamera leisten. Der erste Schnappschuss von mir, aufgenommen in den Vereinigten Staaten, war ein Schulfoto aus dem Jahr, als ich nach Amerika kam. Ich war elf. Später kam eine Zeit in meinem Leben, in der ich nur noch nach vorne blicken wollte, und da zerriss ich das Foto. Doch statt die Einzelteile wegzuwerfen, steckte ich sie in einen Umschlag.
    Vor kurzem habe ich diesen Umschlag wiedergefunden und ihn von Staub befreit. Ich habe ihn aufgeschlitzt und die zerrissenen Papierfetzen darin berührt: hier die Spitze eines Ohrs, dort ein Teil des Kinns. Meine Mutter hatte mir die Haare geschnitten, ungleichmäßig und zu kurz, weit rechts auf dem Kopf gescheitelt und wie bei einem Jungen seitlich
in die Stirn gekämmt. Das Wort PROBEABZUG bedeckt einen Großteil meines Gesichts und einen Teil meiner blauen Polyesterbluse. Wir hatten kein Geld für das richtige Foto und behielten deshalb das Muster, das man uns nach Hause geschickt hatte.
    Aber wenn ich die einzelnen Fetzen des Fotos wie Puzzleteile zusammensetze, blicken meine Augen noch immer direkt in die Kamera, und jeder, der sich die Mühe macht, genau hinzuschauen, erkennt darin die Hoffnung und den Ehrgeiz. Hätte ich es doch nur gewusst.

1
    E ine schmelzende Eisschicht bedeckte den Asphalt. Ich beobachtete meine Gummistiefel genau, wie meine Fußspitzen auf dem Eis rutschten, wie meine Absätze es zum Splittern brachten. Eis kannte ich bisher nur in Form von kleinen Stückchen in geeisten Rote-Bohnen-Drinks. Dieses Eis war wildes Eis, Eis, das Straßen und Gebäuden die Stirn bot.
    »Wir haben wirklich Glück, dass in einem von Mr Ns Gebäuden eine Wohnung frei geworden ist«, hatte Tante Paula auf der Fahrt zu unserer neuen Nachbarschaft gesagt. »Ihr müsst sie natürlich erst in Ordnung bringen, aber Wohnraum in New York ist so was von teuer! Und für das, was sie bietet, ist diese Wohnung ein Schnäppchen.«
    Ich konnte kaum noch stillsitzen im Auto und drehte ständig den Kopf
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