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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
Autoren: Thomas Gsella
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schmaler Fußweg in den von Tannen umwachsenen asphaltierten Lieferhof. Über eine Hintertreppe gelangte man in die Keller- und Betriebsräume des Hauses, den Waschraum, das Vorratslager und die riesige Pensionsküche. Auf einem der Kühlschränke saß der dreizehnjährige Bernd und fasste zum ersten Mal in seinem Leben Brüste an.
    »Hm. Schön.«
    »Hm … find ich auch.« Ingrid ließ ihre Füße baumeln und schämte sich für diese blöden weißen Strümpfe in den noch blöderen schwarzen Lackschuhen. Um sie zu verstecken, hakte sie den rechten Fuß über dem linken ein. Es half nichts. »Kannst du küssen?«, fragte sie heiser und umkreiste mit den Fingern Bernds Kniescheibe. Weil er das seltsam fand, wusste er nicht weiter, zog die Hand aus ihrem Hemd zurück und legte sie auf ihre Schulter. Das war nicht mehr so schön wie vorher.
    »Kannst du denn?«, fragte Bernd und kam sich mau vor.
    »Mhm. Ein Junge aus dem Dorf hat’s mir gezeigt.«
    Weinhold sah nicht, wie ungelenk sich da zwei Oberkörper zueinanderrenkten und sich küssten, während vier parallele Beine auf dem Kühlschrank festzukleben schienen. Weinhold sah, dass der Gruppenälteste Bernd die minderjährige Tochter der Pension verführte. Mit der Linken riss er das Mädchen herunter. Mit der Rechten holte er aus und traf Bernd auf Wange, Nase und Lippe. Auch den zweiten Schlag tat er mit offener Hand, und ein Ring schrappte an Bernds Stirn entlang, bis hin zum rechten Ohrläppchen.
    »Ihr seid nicht achtundzwanzig«, sagte Weinhold und zerrte den Jungen die Treppe hinauf, »ihr seid neunundzwanzig. Also sollte man beim Durchzählen dabei sein. – Wir reden gleich.«
    Die Jungen blieben muchsmäuschenstill, als Weinhold und der blutende Bernd an ihnen vorbei ins Haus gingen. Nur G. stöhnte einmal leise auf, dann ditschte er den neben ihm stehenden Schwabbel an: »Alles stimmt. Nur der rausguckende Wangenknochen fehlt.«
    Schwabbel begriff so wenig, dass er mit dem Überlegen gar nicht erst begann.
    Am nächsten Tag fiel die Wanderung aus. Beim Frühstück verkündete Weinhold, dass Bernd sofort nach Hause müsse; er selbst werde ihn gegen Mittag zum Bozener Bahnhof bringen. Zum Abschied standen alle Jungen einschließlich G., dem Weinhold einen persönlichen Abschied untersagt hatte, auf dem Vorhof der Pension und winkten Bernd zu, der einen ruhigen, beinahe stolzen Eindruck machte. An der Straße wartete ein Taxi mit geöffnetem Kofferraum. Weinhold nahm Bernds schwarze Reisetasche, hob sie etwa hüfthoch und hörte jemanden schreien. Es war G.
    »Ein Sarg! Hört ihr das Piepsen? Das ist ein Sarg! Für ein Kind!« Die Ferien näherten sich dem Ende. Zu Vorfällen war es nicht mehr gekommen. Mit den Kindern hatte sich auch Weinhold ein wenig entspannt, sogar zu Schwabbel sprach er hin und wieder sanft und freundschaftlich. Zwar bestand er weiterhin darauf, dass der Junge an den täglichen Bergwanderungen beteiligt sei und »diesen kindischen Schiss« endlich loswerde, doch der Erfolg schien ihm rechtzugeben. Schweigsam, aber offensichtlich wenn nicht angstfrei, so doch halbwegs gefasst bewältigte Schwabbel, seit dem ersten Tage an Zinowskis Hand, die Anstiege, wurde beim Abstieg teils gar unverkrampft und zählte abends, bei den Bet- und Singelagerfeuern, zu den Konzentriertesten und Lautesten.
    Etwa zwanzig Stunden vor der Rückfahrt nach Essen, es war gegen vierzehn Uhr, befand sich die Gruppe 2900 Meter über Normal Null, auf einer Aussichtsplattform der in den Norddolomiten gelegenen Drei Zinnen. Die Sonne schien, wie sie es auf fast jeder Wanderung getan hatte, aus einem blauen, nur am Horizont leicht dunstigen Himmel herunter, und die Gesichter der Jungen zeigten ein gefälliges Braun. Sie standen, links und rechts von Weinhold und Zinowski, an der kaum meterhohen Plattformmauer und lugten, einige mit Schaudern, den endlosen, steilen, fast senkrechten Abhang hinunter. Schwabbel saß auf dem Boden, blinzelte in die Sonne und ließ kleine Steinchen durch die Hände gleiten.
    »Erholt siehst du aus, Junge. Komm, guck dir die Aussicht an.«
    Schwabbel zuckte zusammen. Er spürte Weinholds Blick. Seine schweißnassen Hände spielten weiter mit den Steinen.
    »Schwabbel, du Angsthase!« Das war Rotze.
    »Feige-he Sa-hau!«: Das war G.
    »Ihr haltet das Maul!« Wieder Weinhold. »Na komm schon. Sonst sag ich deiner Mutter, dass du immer noch ein Mädchen bist.«
    Der Rest ging schnell, zu schnell sogar für Weinhold, so blitzartig kam der kleine
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