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Im Schatten des Fürsten

Im Schatten des Fürsten

Titel: Im Schatten des Fürsten
Autoren: Jim Butcher
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Prolog

    Wenn der Anfang aller Weisheit in der Erkenntnis liegt, dass man nichts weiß, so besteht der Anfang allen Begreifens in der Einsicht, dass jedes Ding, das existiert, eine simple Wahrheit verkörpert: Große Dinge entstehen aus kleinen.
    Aus Tintentropfen entstehen Buchstaben, Buchstaben bilden Wörter, Wörter häufen sich zu Sätzen, und Sätze schließlich geben Gedanken Ausdruck. So geht es auch mit Pflanzen, die aus einem einzigen Samen sprießen, und jede Mauer wird aus vielen Steinen zusammengefügt. Aber auch auf die Menschen trifft dies zu, denn die Sitten und Traditionen unserer Vorfahren bilden das Fundament unserer Städte, unserer Geschichte und unserer Lebensweise.
    Ob nun toter Stein oder Lebewesen oder das wogende Meer; ob in Zeiten des Friedens oder während welterschütternder Ereignisse, an Markttagen oder in verzweifelten Schlachten, ein Gesetz gilt für alles gleichermaßen:
    Große Dinge sind aus kleineren erschaffen.
    Dabei wächst die Bedeutung mit der Größe, sie nimmt stets vom Kleinen zum Großen zu - doch nicht immer ist sie auf den ersten Blick ersichtlich.

    Aus den Schriften von Gaius Secundus,
Erster Fürst von Alera
    Der Wind heulte über die sanft gewellten, nur spärlich bewaldeten Hügel im Lande der Marat, des Einen und Großen Volkes. Er trieb harte, raue Schneeflocken vor sich her. Der Eine ritt über den Himmel, doch verbargen die Wolken sein Antlitz.
    Zum ersten Mal seit dem Frühjahr war Kitai kalt. Sie drehte sich blinzelnd um und schützte mit einer Hand die Augen vor dem Schneegestöber. Um die Hüfte trug sie einen knappen Schurz, einen Gürtel, in dem ihr Messer steckte, und einen Jagdbeutel. Sonst hatte sie nichts am Leib. Die Böen zerzausten ihr das dichte weiße Haar, dessen Farbe sich kaum von der des Schnees unterschied.
    »Beeil dich«, rief sie.
    Ein gewaltiges Schnauben ertönte, dann kam eine riesige Gestalt in Sicht. Wanderer, der Gargant, war selbst im Vergleich zu seinen Artgenossen ein Riese, seine Schultern ragten zweimal mannshoch auf. Er hatte bereits sein zotteliges schwarzes Winterfell bekommen, daher störte ihn die Kälte nicht. Die Krallen, länger als ein aleranischer Säbel, gruben sich mühelos und ohne Hast in den gefrorenen Boden.
    Kitais Vater, Doroga, saß auf dem Rücken des Garganten und schwankte auf seiner geflochtenen Satteldecke hin und her. Er trug ebenfalls einen Lendenschurz, außerdem eine ausgeblichene rote Tunika aus Alera. Seine Brust, seine Arme und seine Schultern waren so stark mit Muskeln bepackt, dass er die Ärmel seines Gewands hatte abreißen müssen - doch da es ein Geschenk gewesen war, wäre es ihm unhöflich vorgekommen, sie einfach wegzuwerfen. Deshalb hatte er sich ein Stirnband daraus geflochten und das weiße Haar damit zurückgebunden. »Ich verstehe; wir müssen uns beeilen, damit das Tal nicht vor uns davonläuft. Vielleicht hätten wir im Windschatten bleiben sollen.«

    »Du bist nicht so witzig, wie du denkst«, meinte Kitai und starrte ihren Vater finster an.
    Doroga lächelte, was die Falten in seinem breiten, flachen Gesicht vertiefte. Er packte Wanderers Sattelseil und schwang sich mit einer Leichtigkeit, die man ihm bei seiner Körpermasse nicht zugetraut hätte, vom Rücken des Tieres. Unten klopfte er dem Garganten auf das Vorderbein. Wanderer hockte sich hin und käute gelassen wieder.
    Kitai ging voraus in den Wind, und obwohl sie kein Geräusch hinter sich hörte, wusste sie, dass ihr Vater ihr folgte.
    Kurze Zeit später erreichten sie den Rand einer Felswand, die jäh in die Tiefe abfiel. Wegen des Schneegestöbers konnte man nicht das ganze Tal einsehen, doch in den Pausen zwischen den Böen reichte der Blick wenigstens bis zum unteren Ende der Steilwand.
    »Schau«, sagte sie.
    Doroga trat neben sie und legte ihr abwesend den Arm um die Schultern. Kitai hätte sich niemals in Anwesenheit ihres Vaters anmerken lassen, dass sie zitterte, nicht bei diesem jämmerlichen Herbstschnee, dennoch schmiegte sie sich an ihn, dankbar für die Wärme. Sie beobachtete ihn, wie er hinunterspähte und auf eine kurze Windstille wartete, um den Ort sehen zu können, den die Aleraner den Wachswald nannten.
    Kitai schloss die Augen und erinnerte sich. Damals waren die toten Bäume mit Kroatsch bedeckt gewesen, einer dicken, gallertartigen Masse. Deshalb hatte es so ausgesehen, als habe Der Eine den Wald mit dem Wachs vieler Kerzen begossen. Das Kroatsch überzog alles, den Boden und auch bis zu einer
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